ARTAM: Ein Reich, Eine Rasse, Ein Zehnter Führer, Zweiter Teil, Kapitel V


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Ahlfen war versetzt, die gesamte Abteilung Rassenschichtenkunde aufgelöst worden. Das hieß, an eine Neuauflage ihres Handbuches war nicht mehr zu denken. Obwohl es keinerlei Mitteilung über die Auflösung der Abteilung gab, war Adrian und ein paar anderen das Fehlen von Ahlfen schon am ersten Tag aufgefallen.  Man konnte aber nur erfahren: “Er ist versetzt“, und nichts anderes.

Am fünften Tag recherchierte Adrian im Rechner, ob da nicht etwas Genaueres zu finden wäre. Weichenstellungen in der Karriere, die von den Persönlichkeitsmerkmalen abhingen, mußten sich irgendwie in den Erbwerten reflektieren und wurden deshalb in den Daten vermerkt, die ihm ja dienstlich zugänglich waren. Tatsächlich, er fand eine erst vor einer Woche gemachte Eintragung: Hauptsturmführer Ahlfen, versetzt östlich des Ural. Das bedeutete, daß er ihn vermutlich nie wiedersehen würde und aus seinem Bekanntenkreis streichen konnte. Es wußte, es hatte wenig Sinn, Verbindung aufnehmen zu wollen.

Adrian begann, am System zu zweifeln. Wenn sein Verhältnis mit Ludmila aufgedeckt würde, was geschähe dann mit ihm? Es hieß aber doch, die Zeiten von Willkürakten seien vorbei und es herrsche Rechtssicherheit.

Er erinnerte sich ungern an den schlimmsten Fall, der ihm einmal zufällig (der Verurteilte hatte Jahre vor seinem „Verbrechen“ einen Fachtext verfaßt, den Adrian gesucht hatte) in den Unterlagen unter die Hände gekommen war: Das Todesurteil gegen den Regierungsrat Dr. Theodor Kosselt [1] . Am 1. August 1943 äußerte Kosselt unter vier Augen in der Straßenbahn in Rostock gegenüber einem Bekannten, dem Stadtrat Krause, daß der tödliche Unfall des Größten Führers Aller Zeiten im November 1941 für das Reich eigentlich ein Glücksfall gewesen sei, weil dadurch die vom Führer angestrebte Unterdrückungspolitik im Osten durch klügeres Handeln ersetzt wurde und der drohende Krieg gegen Nordamerika unterblieb. Also genau das Szenario beschwor, welches der Ausgangspunkt von Kosseks Skandalbuch war. (Man müßte sich doch einmal die Zeit nehmen, das Buch näher anzusehen! Der Gedanke kam Adrian zum wiederholten Male.) Krause zeigte damals Kosselt an, und der Volksgerichtshof unter Fressler verurteilte Kosselt zum Tode. Das Urteil wurde am 25. August 1943 vollstreckt. Die Urteilsbegründung, die Adrian mit Entsetzen gelesen hatte, lautete: „Kosselt sagt nun, er habe Krause nur das gesagt, was er auch denke. Das entlastet ihn aber gar nicht. Ein Deutscher, noch dazu ein höherer Beamter, der dem Führer Treue geschworen hat, denkt nicht so. Sein Eid auf den Führer begründet ein atlantisches Treueverhältnis, das den ganzen Mann ergreift und nicht, wie er in der Hauptverhandlung meinte, nur seine dienstliche Tätigkeit. Ein Deutscher, noch dazu ein Mann, der gebildet sein will, der so redet wie Kosselt, schwächt unseren Willen zu mannhafter Wehr in unserem jetzigen Schicksalskampf, der bis zum letzten angespannt werden muß, weil wir siegen wollen und müssen. Er arbeitet also an der Zersetzung der inneren Front. Er hilft damit unserem Kriegsfeind. Wer unserem Kriegsfeind hilft, hat sich dadurch selbst für immer ehrlos gemacht. Unserem Siege ist es der Volksgerichtshof schuldig, einen solchen treulosen Verräter zum Tode zu verurteilen.“

Daß Kosselt sich ungeschickt verteidigt hatte, war offenkundig. Aber daß man ein Todesurteil auf ein vertrauliches Vieraugengespräch gründete, war für Adrian irgendwie unfaßbar! Das hieß doch nichts anderes, als daß im Krieg die Äußerung von Gedanken auch unter vier Augen nicht frei war. Das Reich und Artam in seiner Rechtsfolge befanden sich aber seit einem anderthalben Jahrhundert im erklärten oder unerklärten Krieg. Im Nachhinein konnte man dem 1943 zum Tode Verurteilten in der Sache vielleicht sogar Recht geben. Das zählte aber gar nicht, sondern nur die am Führer geübte Kritik. Offiziell waren derartige Urteile in Artam niemals hinterfragt oder gar mißbilligt worden, aber durch die 88-er desto entschiedener und heftiger im Altreich. Daß mit einer solchen Art von Meinungsunfreiheit ein Staat auf die Dauer nicht zu regieren und fortzuentwickeln war, hatte die Führung von Artam inzwischen längst begriffen und offiziell dieser Art von Gesinnungsterror abgeschworen. Aber die mangelnde öffentliche Kontrolle über die völlig undurchsichtige Tätigkeit des Zentralen Gewissens verbreitete Zweifel und Unsicherheit, die Adrian nicht zum ersten Mal mit Beklemmung erfüllten. Die „Versetzung“ von Ahlfen gab dieser Beklemmung einen neuen Nährboden. Wer und was steckte dahinter? Hatte der Handschar-Flügel triumphiert? Und was sagte der Führer dazu? Wenn er je davon erfuhr!

 

Beunruhigt war Adrian auch, weil Reitmeier ihn wieder wegen der Denkschrift von Weisman, Fredkin und Jung angesprochen hatte. Reitmeier stellte eine ganz konkrete Fachfrage: „Um wieviel Prozent könnte man das Selektionstempo maximal erhöhen, wenn zu jedem natürlich gezeugten Kind ein, zwei oder drei Kinder hinzukämen, die durch Leihmütter ausgebracht würden?“

Entsprechende Modellrechnungen befanden sich in der Denkschrift, das wußte Adrian. Er hatte aber ausweichend geantwortet und gemeint: „Ich werde mich umsehen, ob irgendwo ein entsprechendes Rechenprogramm gespeichert ist.“

 

In Reichsburg brütete eine Backofenhitze. In den klimatisierten Räumen und Gängen des Amtes blieb die Temperatur zwar konstant, doch draußen versengte einem der Beton und Asphalt die Füße. Nur in den baumbestandenen Grundstücken war es morgens und abends erträglich. Wenn der Wind auf Nordost oder Nordwest drehte, dann wurde es stickig und man konnte die fernen Moorbrände riechen, deren man in diesem Sommer wieder einmal nicht Herr wurde. Dabei liefen die Vorbereitungen für die Reichswettkämpfe, die nur alle vier Jahre zur Sommersonnenwende stattfanden, auf Hochtouren. In allen Ämtern machten die Kameraden Überstunden. Tausende junger Leute waren in und um Reichsburg untergebracht, um die Massendarbietungen im Stadion der Dreihunderttausend vorzubereiten, die im Beisein des Führers den Höhepunkt des Reichswettkampfs darstellten. Auch Gunter, Giselher und Helga Schwarz standen in den Teilnehmerlisten. Ein ganzes Jahr lang wurden die einzelnen Elemente in kleinen Gruppen geübt, dabei auch viel gelacht und gesungen. „Heilige Glut, heilige Glut, rufe die Jugend zusammen, daß bei den lodernden Flammen, wachse der Mut“, so schallte es durch die Siedlung.

Dann galt es, die Gruppen zu großen Schaubildern zusammenzuführen und jede einzelne Übung in jedem Detail aufeinander abzustimmen. Man brauchte mehrere Wochen, bis eine Übung perfekt war und vor dem unbestechlichen Auge des Führers bestehen konnte, bis sich Tausende von blonden, jungen, fast unbekleideten Menschen in vollkommenem Gleichklang und mit hoher athletischer Meisterschaft bewegten, liefen, hüpften, sprangen, sich zu großen Gruppen zusammenballten, einzelne aus ihrer Mitte in die Höhe schleuderten und sie wieder mit den Händen oder in den Sprungtüchern auffingen und sich dann wieder zu Einzelübungen verteilten, bei der jeder jeden Arm und jedes Bein genau im gleichen Takt und im gleichen Winkel zu einer einprägsamen rhythmischen Musik bewegte. Bei jedem neuen Reichswettkampf versuchte man, den vorhergehenden an menschlicher Masse, Schwierigkeit und Perfektion zu übertreffen, noch eindringlichere Musik zu komponieren, auch wenn das schier unmöglich erschien und letztendlich nur von den darüber berichtenden Medien behauptet wurde. Denn es galt ein ungeschriebenes Gesetz: Von diesen Vorführungen im Stadion der Dreihunderttausend durften keinerlei Aufzeichnungen gesendet werden. Man mußte selbst im Stadion sein, es selbst erleben. Obwohl das Hauptprogramm innerhalb von zwei Wochen mehrfach wiederholt wurde, gab es nie genug Karten.

Besonders begehrt war der eine Tag, an dem der Führer persönlich erschien. Auf diesen einen Tag strebten die Wettkämpfe wie ein sich sammelnder Strom hin, und derjenige konnte sich glücklich schätzen, der dafür eine Eintrittskarte besaß. Ein Teil der Karten war kontingentgebunden, ein Teil wurde zu horrenden Preisen verkauft, insbesondere ins Ausland, ein Teil verlost. Selbst ein Mann wie Adrian in seinem Dienstrang konnte nur einmal in 20 Jahren damit rechnen, eine Karte für den Tag zu bekommen, an dem der Führer den Massenleibesübungen beiwohnte. Den unbestrittenen Höhepunkt stellten die Übungen im letzten Drittel der Vorführungen dar, an dem die ausgewählte und im Sippenbuch eingetragene atlantische Jugend Artams vor ihren Führer trat, so wie sie Gott und die Rasse geschaffen hatte. Erst reckte und streckte sich die männliche Jugend in strengem Takt, dann die weibliche voller Glaube und Schönheit, zum Schluß ein harmonisches Bild mit einem Geschlechterverhältnis von vier zu eins. Diese Übungen wirkten wie ein Faszinosum sondergleichen, von dem die gesamte Welt schwärmte, aber noch nie einen zusammenhängenden Bildbericht gesehen hatte. Reiche Ausländer aus Nordamerika, Ostasien und Arabien schreckten nicht vor horrenden Eintrittpreisen zurück, und ein ganzer Block mit Logen blieb für sie reserviert. Sie kamen und zahlten für die an sie im Weltnetz versteigerten Karten, obwohl sie sich vor dem Betreten des Stadions entwürdigenden Leibesvisitationen zu unterziehen und jede Körperöffnung zur Kontrolle vorzuweisen hatten. Es war streng verboten, jedwede Art von Bildaufzeichnern mit ins Stadion zu nehmen. Dennoch verbreiteten die ausländischen Medien ein paar miserable Fotos. Vielleicht hatte jemand eine Miniaturkamera, im After versteckt, ins Stadion geschleust. Adrian hatte aber den Verdacht, daß die Aufnahmen vom Zentralen Gewissen bewußt lanciert worden waren, um die Ausländer noch geiler und zahlungswilliger zu machen. Wie dem auch sein mochte, der Geist und der Herzschlag von Artam, der Rhythmus des Schwarzen Korps, war an keinem Tag und bei keiner Gelegenheit mit einer solchen Eindringlichkeit zu spüren wie in den Schlußminuten dieser Massendarbietungen; einmal abgesehen von der Parade der wehrhaften Jungmannschaft am Ersten Mai.

In diesem Jahr hatte Adrian keine Eintrittskarte bekommen. Godela jedoch würde am Tage der Hauptdarbietung den Führer leibhaftig sehen dürfen, zum ersten Mal in ihrem Leben bei diesem Anlaß. Adrian war sich sicher, daß sie von diesem Erlebnis noch lange schwärmen und zehren würde. Denn diese Feier und Darbietung war der ureigentliche Gottesdienst des rassebewußten Artam. Die Handschar hatten ja zu dieser Veranstaltung ein eher distanziertes Verhältnis.

Adrian erinnerte sich, als er vor zwölf Jahren zum letzten Mal selbst eine Eintrittskarte ergattert hatte. Er allein, ohne Godela oder Gundula, denn es sollte stets als Massenerlebnis empfunden werden, nicht als Paarerlebnis. Das Reichssportfeld mit dem Stadion der Dreihunderttausend lag im Süden von Reichsburg. Für die Anfahrt empfahl es sich, die Untergrundbahn zu benutzen. Adrian fuhr nur selten mit dieser Bahn, aber um an diesem Tag ins Stadion zu kommen, war es die allerbeste Lösung. Ab der Haltestelle Zentralkreuz waren an dem Tage die Abteile rappelvoll gewesen, die Haltestelle Stadion-Nord ein architektonischer Traum aus Marmor und geformten Glas. Von dem Ausgang dieser Station zur Reichssportallee war es zu Fuß noch ein Kilometer bis zum Stadion, dessen Glockenturm von weitem grüßte.

Die Reichsportallee und das gesamte Reichssportfeld waren streng symmetrische Anlagen, die auf den Glockenturm und das Stadion zustrebten. Die Allee säumten in regelmäßigen Abständen riesige Linden (künstlich bewässerte, Adrian wußte es) und weit übermannsgroße Bildhauerarbeiten. Hier stand das Beste an Bildhauerkunst, was Artam in einem Jahrhundert hervorgebracht hatte. Vieles monumentale Auftragskunst, einiges aber auch von den Künstlern aufgekauft oder nach deren Tode von den Erben erworben worden (darunter auch Werke des Franzosen Mallot, der Artam nie gesehen hatte). Muskelstrotzende Diskuswerfer gleich in Mehrzahl, eine wohlproportionierte Stabhochspringerin, ein Paar Boxer, natürlich alles nackte Idealgestalten, dann aber auch eine Anzahl von Arbeiten, für die berühmte Spitzensportler ohne Lendenschurz Modell gestanden hatten. Für alle ausländischen Touristen, die aus so prüden Ländern wie Nordamerika und Ostasien kamen, war ein Spaziergang entlang der Reichssportallee ein Muß, von dem sie zu Hause mit Schaudern erzählten und damit neue Touristen anlockten. Weltweit übertraf keine Sammlung der Bildhauerkunst den Ruhm dieser Allee. Der riesige Fries der ringenden Recken rechts und links des Glockenturms schlug jeden Betrachter in seinen Bann. Nackte atlantische Heldengestalten rangen auf der linken Seite eine Überzahl von kleineren Untermenschen nieder, auf der rechten eine andere Art, die man unschwer links als Mohren und rechts als Ostasiaten erkennen konnte.

Vor dem Betreten des Stadions mußte man noch eine peinliche Sicherheitskontrolle über sich ergehen lassen. Seitdem einmal vor Jahrzehnten bei einer Parade, aber nicht hier in diesem Stadion, sondern in Wolgaburg, eine ganze vollbesetzte Tribüne in die Luft gesprengt worden war, konnten die Sicherheitskontrollen nicht scharf genug sein. Mit allen möglichen Detektoren wurden das Stadion, seine Zugänge und jede Statue und jede Säule auf eventuell verborgene Sprengkörper untersucht. Jeglicher Luftverkehr um Reichsburg ruhte. Alle Kanalisationsdeckel waren zugeschweißt worden. Die gesamte Luftabwehr von Artam konzentrierte sich darauf, einen möglichen Überraschungsschlag mit Raketen gegen das vollbesetzte Stadion abzufangen. Selbst im Großen Chaos hatte man ihn verhindert. (Zwei Anschlagsversuche waren damals im Keim erkannt und erstickt worden). Aber das Sportfest bot stets die beste und nur alle vier Jahre wiederkehrende Gelegenheit, die Führung von Artam zu enthaupten (auch wenn der Erste Stellvertreter des Führers nicht gleichzeitig mit dem Führer anwesend sein durfte) und seine Elite sehr empfindlich zu treffen.

Nach dem Passieren der Kontrolle durfte man endlich die Stufen zum Stadion emporschreiten. Das erwartungsfrohe Schreiten verlieh dem Tag und Ort Weihe und Würde. Aus den Lautsprechern dröhnte feierliche Musik: „Grüßet die Fahnen, grüßet die Zeichen, grüßet den Führer, der sie schuf, grüßet alle, die für sie starben, folget getreulich ihrem Ruf.“ Das Stadion präsentiert sich als ein gewaltiger Bau. Von seiner Krone, die man überschreiten muß, um auf seine Reihe und seinen Platz hinabzufinden, bietet sich ein weiter Blick auf Reichsburg und seine monumentalen Bauten. Im Norden die vier Ämter (die Moschee stand damals noch nicht), die Reichsparadestraße mit dem Triumphbogen der Rasse, im Süden mit der Siegessäule; im Westen das Deutsche Tor und im Osten das Reichsheldenehrenmal. Zwischen dem Reichssportfeld und dem Verwaltungsviertel mit den Ämtern erstreckt sich das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Metropole mit der Reichsfilmhalle, dem Reichsschauspielhaus, der (kaum noch direkt benutzten) Reichsbibliothek, der Reichsbank, dem Reichsgericht, der Reichswirtschaftskammer, der Börse und den marktbeherrschenden Kaufhäuser Neckermann, Urquell, Allda und Kloppenburg. Im letzteren - im Eigentum einer steinreichen Clan-Familie, ebenso wie die beiden vorgenannten - gaben Godela und Gundula gern das Geld aus und nicht nur für Dinge, die sie unbedingt benötigten. (Man bestellte aber oft über Direktversand mit Lieferung durch Roboter direkt ins Haus.) Aber die Ausgaben hielten sich in Grenzen, seine Weiber waren ja halbwegs vernünftig.

Wenn man endlich seinen Platz auf der Tribüne gefunden hatte: Ein kurzes Grüßen nach rechts und links, alles fremde Gesichter, linkerhand hatte man Nordisch gesprochen, erinnerte sich Adrian -  es waren auch Norweger aus Trondheim, wie er im Laufe des Abends herausfand – setzte die Musik ein, die sich steigerte und eindringlicher wurde. Dann Fanfaren: „Vorwärts! Vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren. Vorwärts! Vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren. Artam, du wirst leuchtend stehn, mögen wir auch untergehn. Vorwärts! Vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren. Vorwärts! Vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren. Ist das Ziel auch noch so hoch, Jugend zwingt es doch. Unsere Fahne flattert uns voran, in die Zukunft ziehn wir Mann für Mann. … Jugend! Jugend, wir sind der Zukunft Soldaten. Jugend! Jugend, Träger der kommenden Taten. … Führer, dir gehören wir, wir Kameraden dir!“ Wie oft hatte es Adrian in seiner Jugend gesungen und mit welch inbrünstiger Begeisterung.

Ein Paukenschlag, der Sportführer: Er tritt an das Rednerpult, das sich als quadratischer Festpunkt aus der baulichen und menschlichen Masse heraushebt; Hanno von der Tanne begrüßt den Führer. Ein Musikschlag, als öffneten Himmel und Hölle zugleich ihre Tore, und aus einem verdeckten Gang entsteigt der Führer und tritt ans Rednerpult. Eine Totenstille. Dann das Erlösende: „Mein Volk, Frauen und Männer von Artam, Jugend von Artam, Kameraden, ich eröffne ... .“ Als er zum Schluß seiner Begrüßungsworte die Hand zum Sonnengruß erhebt, sein Antlitz auf einen riesigen Bildschirm projiziert wird, reißt es alle von den Plätzen. Wenn Adrian hätte sitzenbleiben wollen, er hätte es nicht vermocht.  Dreihunderttausend Arme erheben sich zum Sonnengruß, und das Echo wirft das „Heil, heil, heil“ aus dreihunderttausend Kehlen mehrfach zurück. Nur die einsetzende Musik und der Programmbeginn setzten der Begeisterung ein vorläufiges Ende.

Das Stadion besaß eine ausgeklügelte Akustik, die den berühmten Kompositionen von Volkhard Bräutigam eine besonders eindringliche Wirkung verschaffte. Orgelmusik, die durch Mark und Bein ging, mit Verstärkern und Dopplern im gewaltigen Rund raffiniert verteilt. Ehe die Dämmerung einsetzte, sprangen an diesem Abend mehrere hundert Fallschirmspringer ins Stadion. Diese Vorführung hatte man dann aber schon beim nächsten Reichswettkampf abgesetzt, nachdem es bei den Übungen zu einem tödlichen Unfall gekommen war. Einen solchen Stimmungsbruch, das war das letzte, was man an einem solchen Abend voller disziplinierter Harmonie darbieten wollte. Licht und Farben und die gekonnte Bewegung trainierter sportlicher Körper vereinten sich mit der Musik zu einer Symphonie von Kraft und Freude, die auf die Zuschauer übersprang. Der Führer verharrte die gesamte Zeit allein am Rednerpult, und gelegentlich blendete die Kamera sein mildes Lächeln in seinem von Aufmerksamkeit gespannten Gesicht auf der Riesenbildwand ein. Alle fühlten, daß die Schau ihrem Höhepunkt zustrebte. Kurze Pause. Völlige Stille und Leere im weiten Stadionrund.

Dann: Der Führer plötzlich mit Stahlhelm. Er nimmt den Stahlhelm ab, tritt vor das Rednerpult, legt den Stahlhelm auf einen kleinen Sockel, der von zwei Fackeln umrahmt ist und kniet vor dem Stahlhelm nieder. Alle Dreihunderttausend erheben sich von den Plätzen. Der Führer: „Lasset uns nun beten für die Kraft und die Herrlichkeit unseres Reiches in Ewigkeit. Ewige Kraft, laß uns unsere Kinder und Kindeskinder vor Tod und Verderben schützen, so wie wir uns beschützet haben.  Gib uns das Vertrauen zu uns selbst, so wie du es unseren Vätern gegeben hast. Laß uns unsere Feinde verderben, und führe uns zum ewigen Lichte, die Feinde in die Finsternis. Wir sind der Pfeil zum jenseitigen Ufer, gespannt zwischen Tier und Übermensch. Unser ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Wir sind die erste Rasse einer neuen Art, angetreten zu einem anderen Ziel. Gezeugt aus der Rasse, lebend für die Rasse, vergehend in einer anderen Art. Artam.“ Etwa zweihundertsiebzigtausend Stimmen (der Rest sind ausländische Gäste, denen in diesem Moment das Blut friert) wiederholen: „Artam, Artam, Artam“.

Der Führer tritt wieder ans Rednerpult zurück, der Stahlhelm mit den Runen bleibt aber liegen und erscheint auf dem Bild in einer alles beherrschenden Großaufnahme. Die nackte Blüte der männlichen Jugend Artams zieht, nur mit schwarzen Schärpen bekleidet, mit Schwertern und großen schwarzen Bällen ins Stadion ein. Die Übungen strotzen vor Kraft, ihr Tempo steigert sich, der Rhythmus der begleitenden Musik wird härter und härter. Dann das Schlußbild, in dem die männliche Jugend die Schwerter hält, „vor die Stunde der Welt“ (wie Gottfried Benn dichtete). Die Zuschauer reißt es von den Plätzen, der Beifall tost. Es folgt altpreußische Marschmusik und der Auszug der männlichen Jugend.

Danach durchzieht eine völlig andere Musik das weite Rund, leise, weich und einschmeichelnd. In langen Einzelreihen füllt die weibliche Jugend den blaßroten Kunststoffteppich des Stadions, große weiße Rosen im Haar und weiße Schärpen, sonst nichts. Große kräftige Figuren, alle um 1,70 m und höher, mit langen weißen Bändern, die sie und ihre Körper bewegen, eher tanzend als kraftvoll turnend, dabei sich zu Paaren und Vierergruppen formend und wieder trennend. Nachdem ein Teil der Athletinnen die Arena verlassen hat, marschieren wieder Männer mit Schild, Schwert und Helm (mit Helmbusch) auf den Platz, bis das magische Zahlenverhältnis Vier zu Eins erreicht ist. Von diesem Teil der Vorführung ist Adrian nur das Schlußbild in Erinnerung geblieben, bei dem jeweils vier Frauen einen Mann auf seinem Schild hochheben und hochhalten, der mit erhobenem Schwert den Führer grüßt. Für dieses Bild hatte man noch einmal die ausgereiftesten athletisch-atlantischen Gestalten unter der nachgewachsenen Generation ausgesucht. Der Anblick dieses Gruppenbilds konnte, wie Adrian aus mancher Bemerkung der Kameraden entnahm, wenn sie sich über diese Vorführungen unterhielten, eine starke Erektion auslösen, aber auch schon die bloße Erinnerung daran. Die Strenge des grandiosen Spektakels wurde aber bald durch nackte Kinder sehr unterschiedlichen Alters aufgelockert, die in lockeren Gruppen ins Stadion strömten, etwa ein Dutzend pro Fünfergruppe, in den Händen mit bunten Fähnchen in vielen Farben. Die Männer legten die Schwerter ab (sie waren aus Kunstharz und ohne scharfe Schneide) und nahmen jeder ein kleines Kind auf die Schulter. Eine Frau klemmte den Schild wie ein Bügelbrett unter den Arm, je zwei Kinder faßten ein Schwert und schleppten es wie ein Stück Holz weg, und statt mit streng disziplinierten Übungen klang alles in einer heiteren und lockeren Unordnung aus, die alle überraschte. Auch das war Artam.

Inzwischen war es stockdunkel geworden. Kaum hatten die aktiven Teilnehmer das Stadion unten geräumt, zischten außen um das Stadion die ersten Raketen eines grandiosen Feuerwerks in die Höhe, wie es nur Reichsburg alle vier Jahre erlebte. Während des Feuerwerks hatte sich, fast unbemerkt, das Stadion unten mit den jetzt warm bekleideten aktiven Teilnehmern erneut gefüllt. Glühendes Rotfeuer markierte den Schluß.

Das gesamte Licht konzentriert sich nur auf eine Stelle. Das Pult, an dem der Führer erneut vor dem Sockel steht und niederkniet. Alle Dreihunderttausend erheben sich von den Plätzen. Der Führer wendet sich an sein Volk und den Allmächtigen: „Lasset uns nun beten für die Kraft und die Herrlichkeit unseres Reiches in Ewigkeit. Ewige Kraft, laß uns unsere Kinder und Kindeskinder vor Tod und Verderben schützen, so wie wir uns beschützet haben. Gib uns das Vertrauen zu uns selbst, so wie du es unseren Vätern gegeben hast. Laß uns unsere Feinde verderben, und führe uns zum ewigen Lichte, die Feinde in die Finsternis. Wir sind der Pfeil zum jenseitigen Ufer, gespannt zwischen Tier und Übermensch. Unser ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Wir sind die erste Rasse einer neuen Art, angetreten zu einem anderen Ziel. Gezeugt aus der Rasse, lebend für die Rasse, vergehend in einer anderen Art. Artam.“ Weit über dreihunderttausend Stimmen wiederholen: „Artam, Artam, Artam“. Der Reichsjugendführer Helmar von Osten-Sacken tritt an den Führer heran, der den Stahlhelm aufnimmt und ihm den Reichsjugendführer aufsetzt. Beide grüßen sich gegenseitig mit dem Sonnengruß. Der Führer tritt ans Rednerpult und sagt einen einzigen Satz: „Mein Volk, Frauen und Männer von Artam, Jugend von Artam, Kameraden, ich schließe ... .“  Mehr als dreihunderttausend Arme werden emporgerissen und ein langgezogenes „Heil, heil, heil“ setzt den Schlußakkord.

Die Lichter gingen allmählich an und andächtig, langsam und wie benommen begannen die Zuschauer ihren Rückweg, so ist es Adrian in bleibender Erinnerung geblieben. Von der Krone des Stadions erblickte man alle hellangestrahlten Hauptgebäude der Stadt. Bis er zu Hause war, brauchte er mehr als zwei Stunden.

 

Bei den letzten Reichswettkämpfen vor vier Jahren hatte es eine sensationelle Neuerung gegeben. Die männliche Handschar-Jugend bot in langen, sehr enganliegenden Hosen einen rhythmischen Massentanz. Auf der Ehrentribüne saß erstmals auch ein Handschar-Führer – Bassajew, der Kampfkommandant der Handschar im Kaukasus. Ein Mann, der durch verwegene Taten bekannt geworden war und von den Handschar geliebt wurde. Diesmal jedoch schienen die Handschar, aus welchen Gründen auch immer, wieder zu fehlen. Die Vorbereitungen zu Massenübungen ließen sich nicht verheimlichen. Aber weder Adrian noch andere Kameraden hatten davon irgendetwas gemerkt.

 

Die Vorführungen im Stadion waren zwar auch in diesem Jahr wieder der Höhepunkt der Reichswettkämpfe, aber an allen Ecken und Enden der Stadt war viel los.  Nicht die schmale Elite der Leistungssportler, die Artam bei den Olympischen Spielen würdig vertrat und stets mit sehr vielen Medaillen zurückkam, stand im Mittelpunkt der Kämpfe, sondern eine große massensportliche Veranstaltung jagte die andere. Es verging kein Tag, an dem nicht stundenweise die Reichsparadestraße und andere wichtige Straßen für den Autoverkehr gesperrt waren, weil ein Marathonlauf zu Fuß, mit Skates, ein Radrennen, Triathlon oder sonst etwas für irgendeine Altersklasse oder Geschlecht auf dem Programm stand und jeweils Tausende Teilnehmer die Straßen füllten, zuzüglich Zehntausende Zuschauer. Für jeden gesunden Einwohner von Reichsburg und seiner näheren und weiteren Umgebung war es eine Selbstverständlichkeit, mindestens an einem Wettkampf aktiv teilzunehmen. Die besseren Massensportler kamen aus ganz Artam zusammen, ob nun aus Oslo, Kopenhagen, Astrachan, Lublin, Odessa oder Orenburg und aus den Dörfern und Gütern. Jede Wettkampfteilnahme brachte einen mehrtägigen Aufenthalt in der Hauptstadt mit sich, den die unverheiratete Jugend von Artam als ein Ereignis in ihrem Leben ansah, das man sich nicht entgehen ließ. Die Reichswettkämpfe waren der Liebes- und Heiratsmarkt von Artam schlechthin.

Adrian als begeisterter Innenkantenfahrer hatte sich wochenlang auf den Start zu einem Marathonrennen in der Altersklasse der über Vierzigjährigen vorbereitet. Wenn er abends trainierte, stieß er an allen Ecken und Enden auf junge Leute, die flanierten, lachten und sich auf Bänken und an Bäumen paarten. Es war sowieso schon heißes Wetter, aber die Brünstigkeit der atlantischen Jugend steigerte die Hitze fast zur Unerträglichkeit. Nur die Handschar-Jungmannschaft hielt sich züchtig zurück. Ihr weiblicher Nachwuchs verließ die privaten Grundstücken nicht, ihre Väter und Brüder hätten es auch nicht geduldet.

Für die Sicherheitspatrouillen brachten diese Tage Riesenprobleme. Ununterbrochen kreisten Hubschrauber. Über die engumschlungenen Pärchen sahen die Patrouillen und die Älteren großzügig hinweg. Dafür mußte man im Alltag immer mal mit einer Razzia rechnen, die einem eine halbe oder ganze Stunde aufhalten konnte. Plötzlich stand man vor einem abgeriegelten Straßenabschnitt abgeriegelt, und von jedem wurde die Kennung abverlangt. Gelegentlich erfolgten sogar Blutproben für AIDS-Tests oder Abstriche, denen man sich nicht entziehen konnte.

Auch in Adrians Haus logierten vier junge Leute, zwei Kerle von einem Gut bei Scharkau und zwei Maiden aus Reval. Sie bekamen Besuch von anderen Jugendlichen und besuchten ihrerseits ihre Kameraden in anderen Quartieren. „Laßt doch der Jugend, der Jugend ihren Lauf, laßt doch der Jugend ihren Lauf. Hübsche Mädchen wachsen immer wieder auf, laß doch der Jugend ihren Lauf.“ Richtige Wehmut ergriff Adrian beim Hören des Liedes. War er damals in Lemberg noch jung, als er es mitgesungen hatte!

Adrians eigene Kinder wurden wie in einem Strudel mitgerissen, vor allem die größeren. Sie verabredeten sich mit den Quartiergästen im Haus und außer Haus und trainierten für die Wettkämpfe, an denen sie teilnahmen. Adrian hatte es längst aufgegeben, über die Aktivitäten seiner Kinder die Übersicht und Kontrolle behalten zu wollen, und die wieder einmal schwangere Godela und die stillende Gundula rangen die Hände. Ihren unberechtigten Vorhaltungen, er kümmere sich nicht genug um seine Kinder,  entgegnete er trocken, er hätte sie beide ja auch nicht als Jungfrauen kennengelernt. Nach seiner Einschätzung nahm er am Leben seiner Kinder teil, so weit es seine Zeit erlaubte. Ihr erstes bewußte Lächeln als Baby, ihr erstes Greifen nach der Klapper und die ersten zaghaften Schritte – für ihn stets unvergeßliche Momente! Der erste Geburtstag eines Kindes, das war der Tag, an dem seine Mutter die allergrößte Dankbarkeit verdiente. Und dann das spannende zweite Lebensjahr, in dem die Sprache reifte, mit den vielen lustigen Versuchen, die ersten Sätze zu bilden. Keines seiner Kinder wollte Adrian missen. Aber insofern hatten Godela und Gundula schon recht, wenn die Kinder größer und verständiger wurden, wußte er mehr mit ihnen anzufangen. Seine Familie, seine Kinder trugen gute Anlagen für verschiedene Ausdauersportarten in sich. Zwar war keiner von ihnen olympiaverdächtig, aber alle belegten bei Massenläufen vordere Plätze. (Von Godela und Gundula waren ein Urgroßvater väterlicherseits, Richard Harbig, ein herausragender Mittelstreckenläufer gewesen, und eine Urgroßmutter mütterlicherseits, Gisela Busch, eine bekannte Siebenkämpferin.) Jeden Abend trainierte Adrian mit den Söhnen Gisbert und Gunnar und der Tochter Ingrid ein bis drei Stunden auf Innenkantenskates für den Marathonlauf, an dem sie teilnehmen wollten.

Die Familien blieben aber nicht unter sich, sondern man schloß sich an den Abenden zu losen Gemeinschaften zusammen, die sich in kleinen Gruppen jagten und wieder auflösten. Man fuhr nur kurze Zeit seine Höchstgeschwindigkeit, so daß auch Zeit blieb zum Nebeneinanderherrollen und zur Unterhaltung. Mit dem etwas jüngeren Hauptsturmführer Helmut Wölke, der im Reichsspeeramt als Rechtswahrer und Rechtsberater angestellt war, hatte Adrian eine gleiche Wellenlänge gefunden, und sie tauschten oft ihre Meinungen über Tagesereignisse aus, ohne tiefer zu loten. Das Thema „Würdiges Sterben“, ein heißes Eisen, diskutierte man gerade wieder einmal in den Medien. Für passive Sterbehilfe und das Abschalten von Apparaten gab es einen gesetzlichen Rahmen, aber aktive Sterbehilfe war in Artam stets verboten, auch zu einer Zeit, als im Altreich im Großen Chaos während der Altenpogrome zeitweise alle sittlichen Dämme gebrochen waren. Aber es gab Grenzfälle, die immer wieder die Gemüter bewegten. Sowohl Adrian als auch Wölke hatten in ihren Kampfjahren die Leiden tödlich verwundeter Kameraden mit ansehen müssen. Aber darum ging es jetzt bei der öffentlichen Diskussion nicht.

Nach einer halben oder dreiviertel Stunde Skaten nahm Adrian dann noch ein Paar bis zu den Ohren reichender Stöcke zu Hilfe, mit denen er sich abstieß. Dieses Innenkantenskaten im Nordischen Stil galt, wegen der Mitbeanspruchung der Schultermuskulatur, zwar körperlich als besonders zuträglich, aber bei den Massenrennen waren Stöcke in der Regel nicht zugelassen. Die letzten acht Tage vor dem eigentlichen Wettkampf kam es vor allem darauf an, nicht krank zu werden und die erreichte Form zu halten. Jede, auch nur leichte, Infektion konnte den Spaß an der Sache verderben und die Folge von übertriebenem Trainingseifer sein.

Sich zu den Reichswettkämpfen anzumelden, war kein Privileg des Schwarzen Korps und seiner Kinder, sondern stand allen Staatsbürgern offen. Auf verschlungenem Wege hatte Adrian von Ludmila erfahren, daß sich auch German in Reichsburg aufhielt. Er würde unter anderem im Südoststadion an einem Wettkampf im Stabhochsprung teilnehmen. Adrian entschloß sich, an diesem Tag und für diese Stunden freizunehmen.

Es war ein Donnerstag und ein Tag wie jeder andere in den Wettkampfwochen, Straßen, Plätze und öffentliche Gebäude mit Flaggen geschmückt. Aus zahlreichen Lautsprechern dröhnte forsche Marschmusik. In der Luft wimmelte es von Hubschraubern, Zeppelinen und Ballons, von denen man nicht wußte, ob sie zum Vergnügen oder zur Kontrolle kreisten. Abends, in der Dunkelheit, zündeten die Leuchtschriften und zauberten Laserstrahlen riesige Hologramme in die Luft. Kurze einprägsame Sprüche, wie „Die Rasse ist das ewige Leben“ oder „Der Führer ist bei Euch“, an denen es Artam noch nie gemangelt hatte, die Runen der Stämme des Korps oder ganze Personen, ja sogar zwei nackte kämpfende Ringer.

Jetzt, am Tag, wartete Adrian im Südoststadion, das er vorher noch nie betreten hatte, auf den Beginn des Stabhochsprungs. Er wußte, daß auch Ludmila in dem nur locker mit Zuschauern gefüllten Stadion anwesend sein mußte, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Sich hier im Stadion direkt zu treffen oder gar nebeneinander zu stehen, war viel zu gefährlich, denn mit Sicherheit wurde jede Bewegung im Stadion gefilmt. Da links, erkannte Adrian German unter den Wettkämpfern, die noch im Trainingsanzug waren und sich im Stadion für den Wettbewerb aufwärmten. Die Zuschauer sprachen Russisch, Deutsch oder Nordisch, auch Finnisch oder Estnisch hörte Adrian (er konnte den Klang beider Sprachen nicht unterscheiden). Dort schwenkte unten in der zweiten Reihe eine Frau, die Haare im Kopftuch, eine weiße Rose in der linken Hand, ihr vereinbartes Erkennungszeichen. Es konnte nur Ludmila sein. Adrian veränderte seinen Standort und näherte sich Ludmila bis auf etwa zehn Meter. Ihre Blicke trafen sich kurz, und sie lächelten einander zu. Erst fand noch ein 800-m-Lauf statt, dann wurden die Stabhochspringer aufgerufen, die Qualifikationshöhe zu nehmen. Als German den Trainingsanzug ausgezogen hatte – die Springer trugen bei der Spätnachmittagswärme nur ganz kurze Hosen – war Adrian beeindruckt. Dann diese Kraft in der Bewegung, das Hochschnellen des Körpers, diese Eleganz des Bewegungsablaufes, da hielt keiner in der Familie mit. German, sein Prachtjunge, man konnte es nicht anders sagen, wie hatte er sich doch hervorragend entwickelt! Das Stabhochspringen würde etwa zwei Stunden dauern. Wenn Adrian den Kopf leicht drehte, konnte er Ludmila sehen, die bestrebt war, ihre Aufmerksamkeit unauffällig zwischen German und Adrian zu teilen. Nach etwa einer Stunde war Ludmila verschwunden. Sie hatten vereinbart, sich außerhalb des Stadions bei einer Baumgruppe im angrenzenden Park zu treffen. Es sollte wie eine zufällige Begegnung aussehen. Adrian hielt einen Briefumschlag mit Geld in der geschlossenen Hand. Er sah Ludmila stehen und ging in ihre Richtung. Als er ihre Höhe erreichte, ließ sie wie unabsichtlich einen Beutel fallen, den er aufhob und ihr, zusammen mit dem Briefumschlag, in die Hand drückte. Sie bedankte sich höflich, als wäre er ein Fremder. Dann trauten sie sich doch, ein paar Worte zu wechseln. An einen Kuß war nicht zu denken.

 „Mir geht es gut“, sagte sie.

Er: „Ich bin stolz auf German.“

Sie lächelte, etwas gequält.

„Es ist sicherer, wir gehen jetzt wieder auseinander.“

Sie gingen getrennt wieder zurück ins Stadion und standen danach in einem größeren Abstand voneinander. German wurde in seiner Disziplin Dritter. Aber Adrian konnte sich nicht mehr richtig freuen. Ein Glückwunsch, ein Handschlag, wonach es ihm drängte, es war ausgeschlossen. Eine Vorahnung stieg in ihm hoch und sagte ihm, daß nun alles auf eine persönliche Katastrophe hinauslief und bald. Als Dritter gehörte German zu den Medaillengewinner, deren genetischer Kode stets gespeichert und verglichen wird. Daran konnte Adrian nichts ändern, und er hatte darauf keinen Einfluß. Das Verhängnis mußte seinen Lauf nehmen. Wieviel Zeit blieb eigentlich noch?

Ihm war auch schon der Gedanke gekommen, mit Ludmila und German ins Ausland, ins Alte Europa, zu flüchten und dann weiter. Auf alle Fälle besser, als in Artam zu scheitern. Denn vorbei die Zeiten, in denen man jeden Deserteur aus dem Schwarzen Korps wie ein flüchtiges Wild um den ganzen Erdball jagte und erlegen ließ. In Valdivia, der einzigen gebliebenen Wohlstandsinsel in Südamerika, könnten sie vielleicht untertauchen. Diesen absurden Gedanke verdrängte er sofort wieder: Es war ohne Aufzufallen nahezu unmöglich, größere Geldsummen ins Ausland zu transferieren oder Wertsachen zu erwerben, um sie auf der Flucht mitzunehmen. Nie und nimmer ließ er seine Familie im Stich! Wie ein Mann würde er durchs Fegefeuer gehen müssen. Dem konnte er sich nicht entziehen.



[1] Geboren am 24. November 1891 in Buchholz im sächsischen Erzgebirge.