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Veröffentlicht in: Archiv für Familiengeschichtsforschung 5 (2001) 177-182

 

Hat die Genetik für die Genealogen noch eine Bedeutung?

Erwiderung auf den Beitrag "Werden die Deutschen immer dümmer?" von Hans Peter Stamp im "Archiv für Familiengeschichtsforschung" 5 (2001) 119-130

Volkmar Weiss

 

Nachdem mir im März 2001 bekannt geworden war, daß im Internet eine lebhafte Diskussion über eines meiner Bücher [1] in Gang gekommen war, habe ich damals auf meiner Homepage www.v-weiss.de einige grundsätzliche Anmerkungen dazu gemacht, die ich hier wiederhole:

Eine Diskussion, der ich mich stelle, verlangt ein Mindestmaß an Qualität. Das, worüber man sich äußert - also das Buch "Die IQ-Falle" - muß man wenigstens in der Hand gehabt und darin gelesen haben. Aus einigen Texten mancher aufgeregt Diskutierenden geht aber hervor, daß sie von dem Buch selbst bisher noch keine Zeile gesehen haben und auf Meinungen und Gerüchte reagieren, die von Personen in Umlauf gesetzt werden, die das Buch auch nicht gelesen haben, sondern nur Meinungsäußerungen, die einzelne Aussagen des Buches geradezu auf den Kopf stellen. So bitte nicht. Wer Ernst genommen werden will, muß sich erst selber sachkundig machen.

Ich kann nicht nachvollziehen, wenn jemand, der selbst eine akademische Ausbildung hat - sich mehrere Stunden Arbeitszeit nimmt, um derartige Meinungen und Gerüchte im Internet in Form von anonymen Äußerungen zu kolportieren, ohne erst einmal selber wenigstens eine Stunde ins Buch zu schauen.

Gemeint war damit auch die Homepage eines Hans Peter Stamp. Inzwischen hat Herr Stamp das Buch in die Hand genommen, und es dürfte angebracht sein, daß ich mich zu seinen wortreichen Angriffen äußere.

Wer ein Buch mit dem Wort "Politik" im Untertitel schreibt, muß sich im klaren darüber sein, daß er sich aus der wissenschaftlichen Welt hinaus in eine Grauzone begibt, in der unterschiedliche Werthaltungen und Stile der Auseinandersetzung aufeinanderprallen. Darum soll es aber in dieser Erwiderung nicht gehen, sondern ich möchte mich hier auf den wissenschaftlichen Teil der Argumente beschränken. Auch Stamp hätte gut daran getan, auf die erneute anonyme Stimmungsmache am Anfang seines Beitrages zu verzichten und seine Kritik an dem Artikel von Heimo Schwilk in der "Welt am Sonntag" vom 4.2.2001 von der Kritik am eigentlichen Gehalt meines Buches, auf dessen Verteidigung ich mich hier ebenfalls beschränke, sauber zu trennen.

Dabei macht es mir Stamp leicht: Er schreibt zwar richtig, daß die Heritabilität h ein zentraler Begriff ist, um dann aber festzustellen, daß h quadriert werden müsse, „da nicht h, sondern h2 die Regression des Erbwertes auf den Phänotyp darstellt.“ Wenn Herr Stamp vor irgendeiner akademischen Prüfungskommission diese Antwort gegeben hätte, wäre er sofort und glatt durchgefallen. Die Fachterminologie der Genetik ist leider nicht immer und stets konsistent. Aber es gehört zum elementaren Grundwissen, das jedem Genetik-Studenten eingehämmert wird, daß die Zwei bei h keine Quadrierung bedeutet, sondern eine als Konvention festgelegter Zusatz ist. Da ich diese hochgestellte Zwei persönlich aber für irreführend halte, habe ich in meinen Publikationen h2  oder noch besser nur h geschrieben.

Es ist das Wesen eines Sachbuches und noch dazu eines politischen, das sich an einen großen und nur teilweise speziell vorgebildeten Leserkreis wendet, daß nicht alle Berechnungen und Formeln im Text selbst vorhanden sind. Der Leser eines guten Sachbuchs darf aber erwarten, daß sie in der zitierten Literatur im Detail zu finden sind. Meine Habilarbeit [2] als Genetiker z.B. diskutiert auf den S. 36-47 die Formeln und Berechnungsweisen für Korrelation, Heritabilität, Heritabilitätsindex, Regression und Intrapaarkorrelation. Neben der Lehrbüchern über Quantitativen bzw. Biometrischen Genetik, deren Lektüre mir Stamp empfiehlt, quillt mein Arbeitszimmer auch noch von Tausenden von Sonderdrucken über Statistik, Mendelistische Genetik, Psychometrie, Demographie und manchem mehr über.

Stamp hätte gut daran getan, selbst wieder einmal eine wissenschaftliche Originalarbeit - z.B. über die unterschiedlichen Denkmethoden in Biometrischer und Mendelistischer Genetik bzw. über multifaktorielle und Hauptgenmodelle - in die Hand zu nehmen, ehe er sich über meine angebliche Ignoranz ausgelassen hätte. Denn es ist fast 30 Jahre her, daß er über die Quantitative Genetik der Körpermaße einer lokalen Pferderasse promoviert hat, so daß er sich sogar an den Titel seiner Dissertation nicht mehr genau erinnern kann („Stuten“ ist falsch).  Seit Jahrzehnten arbeitet er als Journalist einer regionalen Bauernzeitung, für deren Leser  h2 kein Thema sein dürfte.

 Immerhin ist Stamp aufgefallen, daß mein Buch mit doppeltem Boden geschrieben ist: „Es ist ein erstaunliches Phänomen: Wenn Weiss Thesen von sich gibt, die wirklich so nicht hätten geäußert werden dürfen, findet man häufig an anderer Stelle das Gegenteil oder die Einschränkung, den Ansatz zur richtigen These.“ Vielleicht liegt es einfach daran, daß Stamp und andere sich nicht von den selbstverordneten Denkverboten befreien können, um einen unverstellten Blick auf die Tatsachen zurückzugewinnen. „In dem Buch von Weiss finden sich zahlreiche Fakten, die nicht ohne weiteres beiseitegeschoben werden können. Man kann sicher anderer Meinung sein, aber die Diskussion sollte sich wenigstens um ein Niveau bemühen, das nicht so grundsätzliche Erkenntnisse der Vererbungslehre wie die Mendelschen Regeln und gesicherte Ergebnisse der Populationsgenetik außer Acht läßt“, meint dazu Hermann Metzke [3] .

Nach seiner journalistischen Stimmungsmache - bevor er überhaupt eine Zeile des Buches gelesen hatte - fällt es Stamp sichtbar schwer, die Sachargumente des Buches zu verdauen, ohne dabei seinen Ruf als Autorität für genetische Statistik, für die er sich hält, zu schädigen. Die Argumente, „was ein Tierzuchtgenetiker zur Erblichkeit der Intelligenz beim Menschen sagen kann“ (so Stamp über selbst), aber besser für sich behalten hätte (oder mir vorher in einem persönlichen Schreiben mit der Bitte um Stellungnahme, etwa in einem Telefongespräch, zugeschickt hätte, denn wir leben ja nicht mehr hinter dem Eisernen Vorhang), alle im Detail zurückzuweisen, möchte ich hier aussparen, denn dazu ist der kritische und interessierte Leser meines Buches selbst imstande ist.

Ein erstes Beispiel: Einen Satz zum „Rückschlag zur Mitte“ von S. 41 meines Buch zitiert Stamp und weist ihn zurück. Das ist richtig, nur fällt Stamp dabei nicht auf, daß auch ich die Sichtweise von S. 41, gegen die er sich ausläßt, für vereinfachend und irreführend halte. Mein Buch enthält ein sorgfältig gearbeitetes Personen- und Sachregister. Unter „Regression zur Mitte“ lesen wir dort: „41, 211f.“. Auf den Seiten 211 und 212 hätte Stamp dann das nachlesen können, was er mir gern beibringen möchte.

Das zweite Beispiel: Zur Normalverteilung. Zu diesem Thema weist mein Sachregister sieben - zum Teil mehrseitige -  Textstellen auf, die sorgfältig gelesen, die Antwort darauf sind, was für Stamp Ungereimtheiten sind. Als Bewerber für die C4-Professur für Differentielle Psychologie an der  Martin-Luther-Universität Halle/Saale lautete 1994 mein Vortragsthema vor der Berufungskommission „Sind Intelligenztestwerte normalverteilt?“. Die Summen der Rohtestwerte einfacher Testaufgaben (im Fachjargon: elementare kognitive Aufgaben) sind es nicht, aber sie werden durch ein Verfahren, das die Psychometriker Flächentransformation nennen, auf die Normalverteilung bzw. den IQ projiziert. Das ist in der Psychometrie Grundwissen, ebenso wie die Heritabilität in der Quantitativen Genetik.

 Wenn ich vor 1989 einen wissenschaftlichen Vortrag gehalten habe, indem ich beiläufig erwähnen konnte, daß der mittlere IQ der Studenten für Marxismus-Leninismus bei 115 liegt und damit etwa eine Standardabweichung bzw. 15 IQ-Punkte niedriger als der mittlere IQ von Physikern, Mathematikern, Biochemikern und Diplom-Ingenieuren für Elektrotechnik, hatte ich stets einen Lacherfolg. Von 1977 bis 1984 war ich am Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig (meine berufliche Entwicklung siehe unter www.v-weiss.de) beschäftigt, wo auch repräsentative Befragungen und Erhebungen bei Tausenden Studenten liefen, verbunden mit Intelligenztests. Diese IQ-Testergebnisse für die einzelnen akademischen Fachrichtungen durften meines Wissens nie veröffentlicht werden; ich habe mich aber nicht gescheut, mich in Vorträgen darauf zu beziehen.

In der Bundesrepublik Deutschland, wie auch in anderen Industrieländern, war und ist die Situation nie anders gewesen. Die Hochbegabung ist ein rares Gut, und die besten Köpfe studieren die Fächer, in denen sehr viel Köpfchen zum Verständnis des Stoffes notwendig ist und man später gut bezahlt wird. Das hat aber zur Folge, daß Studenten der Psychologie, Soziologie, Theologie und Landwirtschaft, um nur einige Fachrichtungen zu nennen, einen deutlich niedrigeren mittleren IQ haben müssen, als die oben genannten „harten“ natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächer, die weltweit in der IQ-Spitzengruppe liegen. Veröffentlichungen darüber gibt es in der freien Welt ausreichend, und sie sind von mir zitiert worden. Auch der Leser meines Buches kann z.B. aus der Tabelle auf S. 70 ablesen, daß sich die mittlere Testleistung eines Psychologiestudenten schon im Jahre 1962 kaum von der eines Technischen Zeichners unterschied, aber noch deutlich von der eines Friseurs. Seit 1962 ist die Anzahl der Psychologiestudenten, Sozialpädagogen, Journalisten usw. stark angestiegen, was zur Folge haben muß, daß ihr mittlerer IQ gesunken ist, ebenso wie das bei den Abiturienten des Jahrganges 2000 im Vergleich zu 1962 der Fall sein muß. Worin besteht in derart nüchternen Feststellungen und Schlußfolgerungen für Stamp die „Provokation“, „Diskrimination“ und „Brisanz“? Jeder, der zum erstenmal in einer zum Abitur führenden Schule eine Mathematik-Arbeit geschrieben hat, muß spätestens dann begreifen, wenn er sein Heft zurückbekommen hat und seine Zensur, daß auch die Menschen ungleich sind und nicht nur die Pferde, oder er wird radikaler Kommunist. Es ist eben eine Tatsache, mit der wir alle leben müssen und  leben, daß sich aus Berufsabschluß und Mathematik-Note und wenigen Zusatzinformationen der IQ für eine Person mit einem mittleren Fehler von wenigen Punkten schätzen läßt. Das schließt im Einzelfall nicht aus, wie Stamp richtig vermutet, daß ein Hochschulprofessor für Soziologie mit einem IQ von 120, der nach 1990 von Bonn nach Leipzig berufen worden ist, einen Fahrer mit einem IQ von 125 hat, der einmal Diplom-Ingenieur war und von seinem Betrieb abgewickelt worden ist.

 „Werden die Deutschen immer dümmer?“, fragt Stamp rhetorisch. Nein, nur der genotypische Wert der Wessis verringert sich. Aber auch das ist zu einfach, denn durch die massenhaften Abwanderung der klügsten Köpfe, die in Mitteldeutschland keine geeigneten Arbeitsstellen finden, geht es auch dem Osten nicht besser. Und schließlich ist das mit dem Dümmerwerden nichts mehr als ein journalistischer Blickfang. Die prozentualen Anteile der Hochbegabten an der Gesamtbevölkerung verschieben sich, das ist die bittere Wahrheit. Erst unmerklich und dann mit Konsequenzen: Die Politiker rufen nach Greencard und fähigen Zuwanderern. Wer die politische Diskussion der letzten Monate in Deutschland verfolgt hat und weiß, wieviele und welche Politiker der verschiedensten Parteien und Bevölkerungswissenschaftler mein Buch kennen und mir zum Teil auch in persönlichen Schreiben gedankt haben, der weiß, daß die Argumente der „IQ-Falle“, in die Herr Stamp leider hineingestolpert ist, im Hintergrund tatsächlich wirken und in vernünftiger Weise. Sowohl die Vorschläge der von der deutschen Koalitionsregierung aus SPD und Grünen eingesetzten Süßmuth-Kommission als auch der der CDU zur Einwanderung und von der CSU zur Familienpolitik bewegen sich in eine Richtung, bei der man einmal später fragen wird, ob meine Buch dabei eine ähnliche Rolle gespielt hat wie das Buch „The Bell Curve“ [4] - das in der inhaltlichen Gliederung mein Vorbild war - für die Sozialpolitik der USA.

 „Das Thema hat mit Genealogie wenig oder nichts zu tun, aber die Tatsache, daß der Verfasser gleichzeitig ein bekannter Genealoge ist, veranlaßt zahlreiche Familienforscher, zu seinen Thesen Stellung zu nehmen,“ meint Metzke. Dem möchte ich widersprechen.

Ich finde – siehe die Tabelle auf S. 80 meines Buches - die Tatsache faszinierend, daß bei 100 (100) fähigen  Naturwissenschaftlern 47 (49) Brüder, 60 (55) Söhne, 16 (14) Onkel, 23 (22) Neffen, 5 (5) Onkel der Eltern und 16 (18) Vettern ebenfalls weit, weit überdurchschnittliche Leistungen auf vergleichbarem intellektuellen Niveau aufzuweisen haben. Die ersten Zahlen stammen von Francis Galton aus dem Jahre 1869, die zweiten (jeweils in Klammern dahinter) aus meinen eigenen Untersuchungen in den Jahren 1970 bis 1994. Als ich 1995 bei einer Vorlesung an der Universität Leipzig zum erstenmal diese Zahlen hintereinander schrieb, war ich völlig überrascht. Galtons Personen galten als ein kleiner hochselektierter Personenkreis aus einer hochprivilegierten Ständegesellschaft; ich hatte mit Familien einer sogenannten sozialistischen Gesellschaft geforscht, von denen ein Drittel der Verwandten  - die absolute Zahl der Onkel der Eltern, auf die sich die 5% beziehen, betrug allein 1 996 – in der bürgerlichen Leistungsgesellschaft des Westens lebte oder lebt. Ich hätte die Übereinstimmung dieser beiden Zahlenreihen deshalb nie erwartet und hatte es selbst mehr als 20 Jahre lang versäumt, sie in einer Tabelle zu vergleichen. Das frappierende Ergebnis des Vergleichs ist aber echte Genealogie, das auch an rein genealogischem Material, also den schon veröffentlichten Ahnen- und Stammlisten hervorragender deutscher Naturwissenschaftler, durch Dritte überprüft werden kann. Soweit ich methodisch saubere Arbeiten und Daten in dieser Richtung schon kenne, kenne, stützen sie die Daten von Galton und Weiss. Mit diesen Daten bekommen die Ahnungen eines Hermann Mitgau, eines Johannes Hohlfeld, Hanns Wolfgang Rath, Friedrich Wilhelm Euler, Gero v. Wilcke und anderer großer Genealogen der Vergangenheit Gestalt, die stets vermutet haben, daß hinter dem sozialem Aufstieg und Abstieg und der Herauskristallation großer Geister in einzelnen Familien, hinter dem „sozialen Generationenschicksal“ (Mitgau) bzw. dem „Gesetz vom Brennpunkt oder Knotenpunkt der Vererbung“ (Lange-Eichbaum [5] ), noch etwas mehr zu finden sein müßte, als die Kausalität der jeweiligen historischen und sozialen Bedingungen, nämlich auch eine Art Naturgesetz. Vom „Blut“ sprach man früher, von den Genen heute. Und deshalb ist Genealogie auch mehr als eine bloße historische Hilfswissenschaft, zu der sie der in diesem Falle etwas ängstliche Humangenetiker Metzke machen möchte.

Ich bin zur Genealogie gekommen, weil die Hochbegabten seit 1969 das Thema meiner Dissertation waren und das Thema meines Vortrages bei meiner Verteidigung lautete: „Probleme der Anwendung der genealogischen Methode in einer genetisch orientierten Intelligenzforschung“ [6] . 1972 wurden die Unterlagen meiner Untersuchung in der Zentralstelle für Genealogie in Leipzig archiviert, wo sie sich heute noch befinden. Die Faszination des Themas - eben in seiner Verbindung mit Genealogie - hat mich nie mehr losgelassen und seine politische Sprengkraft, die andere abschrecken mag, ist und war für mich ein unentbehrlicher intellektueller Reiz.

„Die Wissensexplosion der letzten Jahrzehnte bringt es mit sich, daß auch hochqualifizierte Fachleute kaum noch in  der Lage sind, ihr eigenes Fachgebiet in den Details zu übersehen“, schreibt Metzke richtig. Während bis in die Dreißiger Jahre für deutsche Genealogen ein gewisses Maß an Kenntnissen und Interesse an Vererbungslehre eine Selbstverständlichkeit war und Fachleute mit Weltruf, wie z.B. Eugen Fischer [7] , sich auch bei den Genealogen engagierten, hat sich das seit den Fünfziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland gründlich geändert. Nachdem Männer wie v. Klocke, Hohlfeld und v. Gebhardt 1945 begriffen hatten, daß sie sich mehr oder weniger vor einen Karren hatten spannen lassen, der in den Dreck gefahren war, gaben sie dafür der Verquickung von biologischen und sozialen Argumenten die Schuld, bei der ihnen als Nur-Historiker oder Archivar schon immer etwas unwohl gewesen war oder sie fachlich überfordert waren. Umgekehrt mieden fortan auch die Erbforscher, die sich nun Genetiker nannten, mit dem Aussterben der älteren Generation immer mehr den Kontakt zu den Genealogen. Humangenetik wurde fast nur noch als Medizinische Genetik verstanden, und Kontakt zur Genealogie hatte automatisch etwas Unzeitgemäßes, ja „Faschistisches“ an sich, von dem sich nach 1968 der junge etablierte deutsche Hochschullehrer für Genetik fernzuhalten hatte. So entstand eine Lücke, die, etwa im „Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung“, der Handlungsvertreter Heinz F. Friedrichs und später Edith Zerbin-Rüdin ausfüllten, was kaum beigetragen haben dürfte, die Berührungsängste der Genetiker zu den Genealogen, die für sie zu „Laien“ geworden sind, abzubauen. Erst jetzt, in der 12. Auflage des Taschenbuchs im Jahre 2001, hat die Genetik durch Metzke eine Neubearbeitung erfahren, die versucht, auf der Höhe der in der Genetik immer rascher eilenden Zeit zu sein.

 Das 1938 in Leipzig erschienene Buch „Erbmathematik“ [8] war auf seinem Gebiet die absolute Weltspitze. Erstmals wird z.B. die Matrizenrechnung in der Genetik angewendet. Heute ist Deutschland in der Statistischen Genetik bestenfalls Durchschnitt. Wer über Inzucht, Heritabilitätsindex oder Probandenselektion publizieren will, muß Englisch schreiben.

Dennoch sind auch in den letzten Jahren in deutscher Sprache in den Grenzbereichen zwischen Genealogie und Genetik Zeitschriftenaufsätze und sogar Bücher erschienen. Eine von Metzke oder Weiss geschriebene Rezension von einem solchen Buch wird man nicht finden. Mir persönlich tut es leid, da ich einem Verfasser ehrliches Bemühen stets unterstelle, wenn ich in einer Rezension feststellen müßte, daß es sich um eine Arbeit aus einer provinzwissenschaftlichen Subkultur handelt, die offensichtlich englisch- oder französischsprachige Publikationen, die es – z.B. zur Inzucht -  seit Jahrzehnten gibt, nicht zur Kenntnis genommen hat und die damit irgendeinen Koeffizienten zum vieltenmale erfindet. Als Wortführer dieser Subkultur versucht sich Stamp zu profilieren [9] .

Aber selbst auf einem Gebiet, wo heute jedermann ohne Labor und große Kosten zu Hause am Computer die „Populationsgenetik des kleines Mannes“ auf hohem Niveau betreiben könnte, nämlich bei der Auswertung von Familiennamenhäufigkeiten [10] (da Familiennamen genetisch als Allele eines einzigen Genlocus verstanden werden können), ist es soweit gekommen, daß in Deutschland zu dieser Thematik seit Jahrzehnten keine einzige Arbeit mehr erschienen ist und inzwischen ausländische Forscher die deutschen Telefondateien auswerten [11] . – Aus den schon oben zitierten veröffentlichten Daten von Galton und Weiss (S. 80) über die Prozentzahl der Hochbegabten unter den Verwandten läßt sich die Matrix der Übergangswahrscheinlichkeit für die den prozentualen Häufigkeiten  zugrundeliegenden vermuteten Gene schätzen. Derartige Schätzungen sind wissenschaftliche Verfahren von beträchtlicher Raffinesse, an denen sich Stamp gern versuchen kann, denn für die bildungssoziologischen Folgen (Mitte der S. 142 meines Buches) liegen bisher noch keine detaillierten Modellrechnungen vor.

In den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts warfen Walter Scheidt und andere die Frage auf, inwieweit eine Bevölkerung eines bestimmten Dorfes von 1550 genetisch noch mit der Bevölkerung der Gegenwart identisch ist bzw. inwieweit sich die „Blutanteile“ (Genfrequenzen sagt man heute) verschoben haben. Die Forscher glaubten damals, dazu mit der sorgfältigen genealogischen Erforschung einzelner Dörfer einen Beitrag leisten zu können. Da aber in jede Teilbevölkerung hinein und hinaus Ein- und Auswanderung von Personen mit unbekannter genetischer Ausstattung stattfindet, waren diesen Bemühungen Grenzen gesetzt. Wird man aber in den nächsten Jahrzehnten die gleiche Fragestellung wieder untersuchen und diesmal die Molekulargenetik mit heranziehen, so wird sich das, was für Walter Scheidt als Forscher ein Wunschtraum war, ziemlich gut beantworten lassen. Aus dieser Sicht halte ich die in der jüngsten Taschenbuchbearbeitung von Metzke vertretene Meinung, daß die Molekulargenetik der Genealogie kaum mehr bedürfe, für viel zu pessimistisch. Im Gegenteil: Wenn man sieht, wie in Island, Estland, Finnland und Quebec molekulare Humangenetik, Genealogie und historische Demographie ineinandergreifen, dann ahnt man, welche neuen Chancen es auch für die Genealogie geben wird und welcher Nachholebedarf im deutschen Sprachraum bereits besteht. Die bereits nachgewiesenen Assoziationen zwischen Familiennamenhäufigkeiten und bestimmten molekulargenetischen Markern finde ich z.B. aufregend, auch für Genealogen. Auch die Hochbegabungsforschung wird in wenigen Jahren durch die Entdeckung konkreter beteiligter Gene Impulse erhalten, durch die uralte Vermutungen eine reale Substanz erhalten werden.

Wenn man meine zweite Habilarbeit [12] , diesmal als Historiker, liest, die auf der statistischen Auswertung von Ahnenlisten der Leipziger Zentralstelle beruht, wird niemand auf den Gedanken kommen, daß diese Arbeit von einem Wissenschaftler geschrieben ist, der zugleich auch Genetiker ist. Um die Verteidigung der Arbeit an einer geisteswissenschaftlichen Fakultät nicht zu erschweren, habe ich genau die schizophrene Persönlichkeitsspaltung vollzogen, die Metzke von den genetisch gebildeten Genealogen als Tugend fordert, die aber nicht anderes ist als der vorauseilende Gehorsam gegenüber dem Verfolgungsdruck der herrschenden Politischen Korrektheit [13] . Das führt in seiner Konsequenz dazu, daß im Jahre 2001 in Berlin ein Sammelband [14] zu der Thematik „Genealogie und Genetik“ erscheint als Ergebnis einer Veranstaltung, bei der niemand auf den Gedanken gekommen ist, einen Metzke, Stamp oder Weiss einzuladen oder sich nach dem Vorhandensein von Personen mit einem übergreifendem Fachwissen im deutschen Sprachraum auch nur zu erkundigen. Das beweist, daß die Selbstzensur der deutschsprachigen Genealogen sich nicht auszahlt, und die breitere Öffentlichkeit mit den Themen Genealogie und Genetik Hoffnungen und Ängste verbindet, denen wir mit unserem Fachwissen nicht einfach ausweichen können wie der Vogel Strauß. Darauf mit seiner Kritik hingewiesen zu haben, dafür muß man Stamp dankbar sein.

 

[1] Weiss, Volkmar: Die IQ-Falle: Intelligenz, Sozialstruktur und Politik. Graz: Leopold Stocker 2000.

[2] Weiss, Volkmar: Psychogenetik: Humangenetik in Psychologie und Psychiatrie. Jena: Gustav Fischer 1982 (= Genetik. Grundlagen, Ergebnisse und Probleme in Einzeldarstellungen 12); Nachdruck unter dem Titel: Psychogenetik der Intelligenz. Dortmund: Modernes Lernen 1986 (= Beiband zu Jahrgang 27 der Zeitschrift Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft/Humankybernetik).

[3] Metzke, Hermann: Kommentar. Genealogie 50. Jg. (2001) 536-537.

[4] Herrnstein , Richard J . and Charles Murray: The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life. New York: Free Press 1994.

[5] Lange-Eichbaum, Wilhelm und Wolfram Kurth: Genie, Irrsinn und Ruhm. Genie-Mythos und Pathographie des Genies. 6. Auflage. München: Ernst Reinhardt 1967.

[6] In vollem Wortlaut veröffentlicht  in: Mitteilungen der Sektion Anthropologie der Biologischen Gesellschaft der DDR, H. 28 (1972) 45-56.

[7] Eugen Fischer  war jahrzehntelang Vorsitzender des Landesvereins Badische Heimat und Förderer der Familienforschung gewesen. Siehe das Thematische Heft „Badische Familienforschung“ von „Mein Heimatland.“  14 , H. 1/2 (1927).

[8] Geppert, Harald und Siegfried Koller: Erbmathematik. Theorie der Vererbung in Bevölkerung und Sippe. Leipzig: Quelle und Meyer 1938. – Koller machte nach 1945 im Statistischen Bundesamt eine große Karriere.

[9] Daß eine Qualifikation als „Tierzuchtgenetiker“ nicht vor Fehleinschätzungen bei gesellschaftlichen Bezügen schützt, dafür vergleiche: Weiss, Volkmar: Die Machtergreifung der Viehzüchter. = Die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses. Teil III. Genealogie 50. Jg. (2001) H. 7/8.

[10] Eine Übersicht dazu enthält der Abschnitt „Medizinische Fragestellungen und Inzucht“, S. 93-97, in: Weiss, Volkmar und Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie. 2. Auflage. Neustadt/Aisch: Degener 1998.

[11] Rodriguezlarralde, A., Barrai, J., Nestic, C., Mamolini, E. and C. Scapoli: Isonymy and isolation by distance in Germany. Human Biology 70 (1998) 1041-1056.

[12] Weiss, Volkmar: Bevölkerung und soziale Mobilität: Sachsen 1550-1880. Berlin: Akademie-Verlag 1993.

[13] de Benoist, Alain: Schöne vernetzte Welt. Tübingen: Hohenrain 2001; darin: Die Methoden der Neuen Inquisition. Orwell läßt grüßen, S. 173-206.

[14] Weigel, Sigrid (Hrsg.): Genealogie und Genetik. Berlin: Akademie-Verlag 2001.

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