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Text aus: Weiss, Volkmar und Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie. 2. Auflage. Neustadt/Aisch: Degener 1998, S. 104-112

7. Die Innsbrucker Schule

Weil von 1933 bis 1945 sich zahlreiche Autoren, die sich mit Familienrekonstitutionen befaßten, auch politisch engagiert hatten, führte das dazu, daß diese Forschungen im deutschen Sprachraum nach 1945 vielfach abbrachen, wenn auch die angelegten Karteien häufig Krieg und Nachkrieg überdauert haben und inzwischen oft als gedrucktes OFB erschienen sind. Eine Ausnahme war nur das Institut für Bevölkerungsgeographie der Universität Innsbruck (Kinzl 1948), an dem in den Nachkriegsjahren in 59 Dissertationen und Diplomarbeiten Einzelgemeinden oder jeweils benachbarte Gemeinden analysiert worden sind. Leider sind diese Arbeiten sehr wenig bekannt geworden. Desto verdienstvoller ist es, daß Fliri (1996) jetzt eine bibliographische Übersicht und inhaltliche Kurzfassung der Ergebnisse dieser Schule (siehe auch 32b) veröffentlicht hat, auf die wir uns im folgenden stützen.

Der Geograph und Klima- und Gletscherforscher Hans Kinzl (1898-1979) war 1939 nach Südamerika gegangen, wo er einen Aufenthalt in der Tirolersiedlung Pozuzo in den peruanischen Anden dazu benutzte, die Kirchenbücher zu verkarten. 1941 gelang es ihm, über neutrale Länder nach Tirol zurückzukehren, wo er Obernberg am Brenner und Schwarzenberg im Bregenzerwald verkartete und begann, sich der Bergbauernforschung zu widmen. Zu dieser Zeit bestand ein reger Gedankenaustausch zwischen dem Geographischen und dem Volkskundlichen Institut, und viele Geographie-Studenten hörten die Vorlesungen von Hermann Wopfner, der wohl der beste Kenner der alpenländischen Agrargeschichte war. Nach der Besetzung Österreichs durch die Alliierten war geographische Feldforschung kaum möglich, und Kinzl machte aus der Not eine Tugend und begann 1945/46 mit einem Seminar, in dem die Studenten zu bevölkerungsbiologisch-geographischen Arbeiten angeregt wurden. Die Ansätze von Demleitner und Roth, Bredt und Scheidt waren in Innsbruck bekannt. Die Studenten waren keineswegs der eben besiegten Ideologie verhaftet, sondern „fühlten sich als Teile einer Gesellschaft, deren bevölkerungsbiologisches Gesicht sie nun mit viel Fleiß enthüllten“ (Fliri 1996). „Ob noch streng geographisch oder nicht, auf jeden Fall  werden die einzelnen Teilergebnisse unser Verständnis für die Menschengruppe vertiefen, mit der wir uns beschäftigen. ... Wer sich mit einem wissenschaftlichen Problem beschäftigt, kann nicht an künstlich gezogenen Fachgrenzen haltmachen, sondern muß alles heranziehen, was der Lösung der gestellten Aufgabe dient. Wenn solche Arbeitsgebiete nicht mit unserer üblichen Facheinteilung übereinstimmen, spricht man von wissenschaftlichen Grenzgebieten, obwohl die Grenzen in uns selbst und in unserer Ausbildung liegen, nicht aber in der Wissenschaft“ (Kinzl 1948). Bei 25 von Kinzl vergebenen Themen wurde mit der nominativen Methode gearbeitet, und  es wurden Familienbücher angelegt. Daß die Tiroler Arbeiten auch in der Tradition der Scheidtschen Schule standen, belegt ein Zitat aus Fliris Dissertation (1948): “Als Ziel unserer Betrachtungen über Heiratskreis, Binnenwanderung und Seßhaftigkeit hatten wir eingangs die Klärung der Frage gefordert, bis zu welchem Grade die heutige Bauerngeneration mit ihren Vorfahren vor etwa 200 Jahren identisch ist. Wir bemerkten, daß eine völlig exakte Lösung nur durch eine Untersuchung der Veränderung der Erbmasse der Ausgangsbevölkerung zu erhalten sei.“

Dr. Franz Fliri (geb. 1918) arbeitete nach seiner Promotion ein Jahrzehnt lang als Bauer in Baumkirchen auf dem Gut seiner Vorfahren, dann als Gymnasiallehrer, ehe die Universität Innsbruck für ihn einen Arbeitsplatz hatte. Nach 1964 vergab Fliri als Kinzls Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Geographie weitere 13 Themen zur Bevölkerungsgeographie.

Das Heiratsalter, die saisonale Verteilung der Heiraten, die Ehedauer, die Anzahl und der Anteil der Wiederverheiratungen, der Ledigenanteil, der Anteil der Unehelichen, der Anteil der Ehen mit vorehelicher Empfängnis, die Geburtenabstände, die Zahl der Geburten in abgeschlossenen Erstehen, die Familiengröße, die Säuglings- und Kindersterblichkeit, die Lebenserwartung, die Zahl der Geburten pro 1000 Frauen und Alterskohorte und die Fruchtbarkeitsziffern nach Ehedauer und Heiratsalter sowie das Alter der Frau bei der Letztgeburt sind wichtige Kennziffern, die schon in den Dissertationen von Hedwig Reichle (1944) und Helga Boltzmann (1951; sie ist eine Enkelin des jedem Wissenschaftshistoriker bekannten Physikers Ludwig Boltzmann) ermittelt worden sind.

Der Unterschied zwischen einer soliden Arbeit mit Ergebnissen von zeitlosem Wert und einer fast wertlosen wird deutlich, wenn man die nüchterne Arbeit von Hedwig Reichle mit der von Waltraud Schönthaler vergleicht, die voll im Zeitgeist befangen war und kaum brauchbare Zahlen enthält. Beide Arbeiten wurden 1944 in Innsbruck als Dissertationen verteidigt, die von Schönthaler allerdings nicht an der Philosophischen Fakultät und nicht bei Kinzl.

 Schon Reichle fand in den von ihr untersuchten drei Gemeinden Breitenbach, Angath und Voldepp für den Zeitraum 1780-1900 ein durchschnittlich sehr hohes Heiratsalter. „In Voldepp liegt es bei den Männern immer über 30 Jahren.“ Um 1800 liegt es bei 34,5 Jahren. „Manchmal beinahe ein Viertel, ja sogar ein Drittel aller Männer heiraten eine Frau, die älter ist als sie selber. Dabei handelt es sich nicht um einen geringfügigen Altersunterschied, denn im günstigsten Fall ist die Frau durchschnittlich 3 Jahre älter als der Mann. ... Häufig findet man, dass gerade bei solchen Ehen die Frau die Hofbesitzerin ist. Der Mann aber ist ein Bauernsohn, der als Nachgeborener keinen Anteil am Besitz hat. ... Die späten Heiraten sind zu einem grossen Teil, wenigstens bei Bauern, bedingt durch das Erbrecht. Meist kann und will der Sohn erst heiraten, wenn der Bauer den Hof übergeben hat oder es bald tun will. Der alte Bauer aber wird, da ja das Unterinntal Ältestenrecht bei der Vererbung hat, mindestens so lange warten, bis die jüngeren Geschwister auf eigenen Füssen stehen.“ In Angath haben folglich Bauern ein höheres Heiratsalter als Handwerker und Arbeiter-Knechte. In Angath und Breitenbach beträgt im gesamten Untersuchungszeitraum der Anteil der Erstgeburten im ersten Ehejahr über 50%. Auch die Kinderzahl in biologisch vollendeten Ehen wird nach Bauern, Handwerkern und Arbeitern aufgeschlüsselt, wobei Reichle (1944) zu letzteren bemerkt: „Man muss aber immer in Betracht ziehen, dass auch die Arbeiter häufig eigenen Grund besitzen. Diese Zwergbetriebe werden dann von der Frau bewirtschaftet. Die Kinder müssen mithelfen. Häufig ist gerade dann die Kinderzahl über dem sonst üblichen Durchschnitt. ... In Angath haben 5,6 Kinder für den gesamten Zeitraum Bauern und Handwerker, während es bei den Arbeitern nur 4,5 sind.“ In Breitenbach sind es (1784-1940) bei Bauern 5,4 Kinder, bei Handwerkern 5,2, bei Arbeitern 3,9. „Bedeutsam ist die Verminderung der Geburtenabstände seit 1850. Hatten 1784-1850 die grösste Zahl der Geburten einen Abstand von 21-25 Monaten, so verringerte er sich 1851-1900 auf 16-20. ... Das gilt für alle Berufe. Der absolut häufigste Geburtenabstand beträgt 1784-1850 bei den Bauern 24 Monate und bei den Handwerkern und Arbeitern sogar 26 Monate. ... Auffallend ist, dass trotz geringerem Geburtenabstand die Zahl der Kinder geringer wurde. Da ja das Heiratsalter der Frau sogar absinkt, hört also die Gebärkraft entweder früher auf oder aber mehr Kinder sind unerwünscht. ... Die meisten Höfe Breitenbachs (38%) gehören der Grössengruppe von 5-20 ha an. Diese Höfe sind es auch, die von 1784-1849 mit 6,4 die grösste durchschnittliche Kinderzahl aufzuweisen haben. 22,4% aller Höfe sind 20-50 ha groß.“ In dieser Gruppe beträgt die durchschnittliche Kinderzahl im selben Zeitraum 5,2 pro Familie. “Am Angerberg erweisen sich die mittelbäuerlichen Betriebe als die bevölkerungsbiologisch günstigsten. Für diese Höfe ist es von Vorteil, wenn sie mit eigenen Kräften bewirtschaftet werden können, während ... die grösseren doch noch Fremde zuziehen müssen, sodass es bei letzteren günstiger scheint, wenn weniger Kinder da sind, die nachher ausgezahlt werden müssen.“ Die Zahl der Knechte und Mägde auf den unterschiedlichen Hofgrößen wird dann  noch durch statistische Zahlen belegt. Die Art und Weise der Analyse und Argumentation belegt, daß es sich bereits bei der ersten Dissertation (Reichle 1944) aus der Innsbrucker Schule um eine solide Arbeit gehandelt hat, mit der Maßstäbe gesetzt wurden.

Da es für die methodische und statistische Arbeit in Innsbruck an Vorbildern mangelte, verfaßte Fliri im Auftrage von Kinzl 1948 eine interne „Anleitung zum Verwerten der Kirchenbücher als bevölkerungsgeographische Quelle“. Fliri (1948), Troger (1954) und Lässer (1956) waren es denn auch, die Dissertationen vorlegten, die gedruckt worden sind und die aus diesem Grunde im alpenländischen Raum, gemessen an den Zitierungen, eine gewisse Wirkung hatten, während fast alle anderen Arbeiten der Innsbrucker Schule - oft unverdientermaßen - nie über Tirol hinaus bekannt wurden. Fliri (1948) fand im Unterinntal, daß für den Zeitraum seit 1800 gilt, daß mit steigender Hofgröße das Heiratsalter abnimmt: Hofgrößenklasse I (19% aller Höfe) 36,1 Jahre bei den Männern, 31,9 bei den Frauen; II (29% aller Höfe) 35,1 Jahre bei den Männern, 29,6 Jahre bei den Frauen; III (39% aller Höfe) 34,2 Jahre bei den Männern, 29,0 bei den Frauen; IV (16% aller Höfe) 33,6 Jahre bei den Männern, 28,2 Jahre bei den Frauen. „Obwohl das Heiratsalter des Mannes mit steigender Größenklasse sinkt, nimmt der Altersunterschied beträchtlich zu. ... Es heiraten also die Bauern der größeren Höfe verhältnismäßig viel jüngere Frauen als die Männer der kleinen Höfe.“ Die biologische Ehedauer steigt demzufolge von 11,8 Jahren bei den kleinen Höfen bis auf 14,1 Jahren in Hofgrößenklasse IV, die Kinderzahl von 4,5 bei Klasse I; 5,2 bei Klasse II; 5,8 bei Klasse III bis auf 6,4 bei Klasse IV. „Das Maß der Heiraten von Ort zu Ort beruht auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage. ... Seit Beginn der Untersuchungszeit haben die Geburtenabstände ständig abgenommen. Kein Jahr in der Bevölkerungsentwicklung unserer Gemeinde stellt aber einen auffallenderen Markstein dar als das Jahr 1888. ... Die Geburtenabstände vergrößerten sich wieder.“

Troger (1954) und Lässer (1956) befaßten sich mit den Zusammenhängen zwischen siedlungsgeographischen und damit wirtschaftlichen Gegebenheiten, den demographischen Kennziffern und dem Wanderungsverhalten der Bergbauern. Relativ zur Industriearbeit wurde die Arbeit der Bergbauern immer unergiebiger und viele Dörfer immer stärker wirtschaftlich marginalisiert, da immer weniger Arbeitskräfte dazu gebraucht wurden, die Gesamtbevölkerung mit Nahrung zu versorgen. Die Tiroler Arbeiten sprechen also zentrale Fragen der Dorfentwicklung an, die jedes einzelne Familienmitglied vor folgenschwere persönliche Entscheidungen stellen, die mit der Rentabilität des Hofes, einer anderen Berufswahl und notwendiger Abwanderung verbunden sind oder sein können. Für seine Aufgabenstellung fand Troger (1954) die Lösung, aus seiner Grundgesamtheit eine bzw. zwei Klumpenstichproben zu ziehen, einen methodischen Weg also, wie er dann später auch bei mehreren Schweizer Arbeiten gegangen wurde: „Das umfangreiche Untersuchungsgebiet mit der großen Anzahl von Matrikenfällen (276 541) machte von vornherein die Anlage eines Familienbuches für das gesamte Zillertal für einen einzelnen praktisch unmöglich. Mit diesem Vorgehen sind nun bestimmte Mängel der vorliegenden Untersuchung verbunden. ... Um diese Nachteile zu mindern, wurde die Talgemeinde Straß und die Berggemeinde Gerlos mittels eines Familienbuches genauer untersucht. ... Wie wichtig die Einstellung der Eltern zum Kinde ist und welche Bedeutung ihre Pflege hat, zeigt eine Gegenüberstellung der Säuglingssterblichkeit bei ehelichen (16%) und außerehelichen Kindern (32%) der Gemeinde Straß von 1701 bis 1950.“ Das 6. Lebensjahr erreichen 75% der ehelichen und 59% der unehelichen Kinder.

Eine ausgesprochene Bergbauerngemeinde hat Lässer (1956) untersucht. Die Kirchenbuchunterlagen wurden durch die mündliche Hofbefragung eines jeden Hofes ergänzt. „Nicht nur das Heiratsalter hat im Lauf der letzten 150 Jahre zugenommen. ... Je günstiger und sicherer die Erwerbsbedingungen, um so leichter ist es für junge Menschen zu heiraten und eine Familie zu gründen. So ist also das Ansteigen des Heiratsalters als Folge einer relativen Verschlechterung der Wirtschaftsverhältnisse anzusehen. ... Von 1780 bis 1948 durchschnittlich je Hof 5,04 Besitzwechsel. Es trifft somit auf eine Generation eine Besitzdauer von 33 Jahren. Bezeichnenderweise finden wir bei jenen Höfen, mit deren Besitz eine gewerbliche Verdienstmöglichkeit verbunden ist, den Besitzwechsel am häufigsten. Der Gasthof verzeichnet ... bis heute elf Besitzer. ... Vor allem vertauschte niemand einen äußeren Hof gegen einen, der weiter im Talhintergrund lag. Auch die Einheiraten sind durchaus talauswärts gerichtet. ... Daher konnten auch die Zuwanderer aus dem Ötztal in den innersten Weilern nicht nur, weil sie ihnen am nächsten lagen, sondern auch deswegen, weil sie von der ansässigen Bevölkerung am wenigsten begehrt, zuerst Fuß fassen. Die hohe Ledigenquote hängt schließlich auch mit diesem geringen Wert der Betriebe zusammen.“

Fliri (1996) kritisiert in seiner Rückschau die in Innsbruck gemachten methodischen Fehler, aber seine strenge Kritik aus der Sicht des Naturwissenschaftlers trifft im Grunde genommen die Historische Demographie insgesamt. „Vor allem am Beginn der Kirchenbuch-Arbeiten sind leider statistisch-methodische Fehler unterlaufen, die heute das Zusammenfügen und Vergleichen der Ergebnisse erschweren oder ganz unmöglich machen. So wurden Merkmalsbegriffe unscharf oder willkürlich gewählt, Relativzahlen (Prozentwerte, Heirats-, Geburten- und Sterberaten) wie in der Makro-Demographie berechnet, ohne daß absolute Bezugswerte genau angegeben wurden. Vom einzelnen Jahr bis zum Jahrhundert waren verschiedene Teilperioden in Gebrauch. Nicht genug können heute Absolut- und Relativwerte zuweilen nur mühsam aus Graphiken messend wiedergewonnen werden, da Zahlen und Tabellen fehlen. ... Leider gelangten Glättungswerte auch in die Tabellen, und die ursprünglichen Größen bleiben unbekannt.“

Die - leider nie gedruckte - Dissertation (1951) von Helga Boltzmann, die mit einem Preis der Universität Innsbruck ausgezeichnet worden ist, markiert mit ihrer logischen Strenge und Klarheit zweiffellos einen frühen qualitativen Höhepunkt der Innsbrucker Schule. Boltzmann verbindet die nominative Auswertung von 3 Pfarrgemeinden mit der aggregativen Auswertung von insgesamt 13 Pfarren des Salzburger Lungaus. Der Großteil der Gewerbetreibenden des Lungaus waren Sauschneider und damit Saisonwanderer. „Bauern und Nichtbauern unterscheiden sich dadurch, daß bei den Nichtbauern die Ehen gleichmäßiger über das Jahr verteilt sind als bei den Bauern.“ In entlegenen Dörfern stammen sehr viele Ehepartner aus der Heimatpfarre, in Zederhaus 84% (1800-1948), in Muhr und Lessach je 75%, mit fallender Tendenz in den letzten Jahrzehnten. „Die Bauern sind seßhafter als die Nichtbauern und holen ihre Ehepartner aus der Nähe. ... Auch ich konnte eine Übereinstimmung des mittleren Heiratsalters und der Zahl der bäuerlichen Erstehen, wie Fliri, beobachten.

1750-1760 große Zahl an Ehen  -  niederes Heiratsalter.

1765-1780 Zahl der Ehen sinkt -  höheres Heiratsalter, da die Ehen aufgeschoben werden.

1789-1820 größere Zahl der Ehen  -  Heiratsalter sinkt.

1840-1890 durchschnittlich sehr geringe Anzahl der Ehen - Heiratsalter steigt.“

Von 1781-1850 betrug das durchschnittliche Alter der Frau bei der letzten Geburt 40 Jahre. „Die biologische Ehedauer sinkt mit Ausnahme des Jahrzehnts 1820-1830 von 1790-1860 von 17 Jahren auf 13 Jahre. Dann steigt sie bis nahezu 20 Jahre in den Jahren 1890-1910 und fällt bis 1920 wieder auf 18 Jahre. ... Die durchschnittliche Kinderzahl der Ehen ändert sich mit der biologischen Ehedauer. 1820-1830 ist sie am höchsten mit einem Wert von sieben Kindern. Zur selben Zeit ist auch die biologische Ehedauer mit 17,8 Jahren höher als der Durchschnittswert, und auch die Fruchtbarkeitsziffer (die Kinderzahl dividiert durch die Ehedauer mal Tausend) mit 393 erreicht hier ihr Maximum. ... In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam die große Kinderzahl bei geringer Ehedauer durch große Fruchtbarkeit, Ende des 19. Jahrhunderts durch lange Ehedauer bei geringer Fruchtbarkeit zustande.“ Die durchschnittliche Kinderzahl in biologisch vollendeten bäuerlichen Erstehen ist in den 140 untersuchten Jahren (1781-1920) mit 6,7 gleich geblieben. „Von 1701-50 war der häufigste Geburtenabstand zwischen den weiteren Kindern, z.B. dem ersten und zweiten, zweiten und dritten, und vierten und fünften Kind bis zweieinhalb Jahre, während er heute nur ein bis eineinhalb Jahre beträgt. ... Während um 1800 die Kinder oft zwei Jahre gestillt wurden, ist die Stillzeit heute nur kurz.“ Die Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit zwischen null und fünf Jahren betrug 25,5% (1792-1947) für eheliche Kinder, 31,8% bei den unehelichen. „In der Bezirkshauptmannschaft Tamsweg sind 1/3 der gestorbenen Säuglinge nicht eine Woche alt geworden. In der Gemeinde Muhr waren die Hälfte der Säuglingssterbefälle von Kindern unter einem Monat, ¾ der Todesfälle von Säuglingen und Kleinkindern waren Säuglinge.“ Natürlich sind diese zusammenfassenden Sätze bei Boltzmann durch Tabellen belegt, die 1951 über den Lungau zusammenfassend feststellen kann: „Der Geburtenrückgang ist noch kaum bemerkbar. ... In allen Gemeinden ist der Altersaufbau 1948 eine Lebenspyramide. ... Es erhalten sich im Gebirge nicht nur alte Bräuche, Sitten und Wirtschaftsformen, sondern auch bevölkerungsbiologische Verhältnisse früherer Generationen.“ - In der Arbeit von Verdroß-Droßberg (1955) werden die mittleren Kinderzahlen von drei Generationen gegenübergestellt. Die Jetztgeneration, zurückreichend bis zum Ende des I. Weltkrieges, hat pro biologisch vollendete Ehe 3,3 Kinder, von denen 2,5 überleben, ihre Elterngeneration hatte 9,1 Kinder, von denen 6,4 überlebten, die Großelterngeneration 6,3 Kinder, von denen 4,3 überlebten.

Hat die französische Schule von diesen Innsbrucker Arbeiten tatsächlich nichts gewußt? In der Innsbrucker Dissertation von Diez (1958) werden französischsprachige Arbeiten zitiert, darunter L. Henry aus dem Jahre 1948. Wie Fliri, der selbst auch Französisch versteht, mir persönlich versicherte, gab es Kontakte mit Frankreich und Paris. So hielten sich Charles Pèguy aus Grenoble und Alice Picard (bzw. Alice Saunier-Seitè nach ihrer Verehelichung), die dann sogar Wissenschaftsminister Frankreichs wurde, zeitweise in Innsbruck auf.

 Von den späteren, von Fliri betreuten Arbeiten, wollen wir die Dissertationen von Keuschnig (1973), Salzburger (1972) und Winkler (1973) hervorheben. Keuschnig untersuchte ein Gebiet der stärksten Besitzzersplitterung im Realteilungsgebiet, nämlich die Gemeinden Karres und Karrösten. Nach der Höfekartei von 1970 haben in Karres von 112 Familien, die in 85 Häusern wohnen, nur 39 Familien Großvieh, und die durchschnittliche landwirtschaftliche Nutzfläche beträgt nur 2,5-3 ha; nur vier Bauern haben 5-6 ha; in Karrösten haben 124 Familien im Durchschnitt nur 2 ha Land. Karres und Karrösten sind Winterquartiere und Stützpunkte der Tiroler Landfahrer, der Karrner, die fast dreiviertel des Jahres mit ihrer gesamten Familien auf einem zweirädrigen Karren als Hausierer und Händler ein Nomadenleben führen, mit den entsprechenden sozialen Begleiterscheinungen. Keuschnig bemerkt dazu u.a.: „Die Trunksucht ist bei Karrnern sehr verbreitet, was nicht zuletzt Ausdruck der mangelnden Hemmung ihres primitiven Charakters und Kompensation ihres Außenseiterdaseins ist. Hervorzuheben ist hier, daß die Frauen die Rauf- und Trinkgewohnheiten der Männer angenommen haben, und auch ihre sonstige Lebensweise sich durch nichts unterscheidet. Die Aufgabe der Kindererziehung wird vollkommen mißachtet, obwohl sie sehr an den Kindern hängen. Das abnorme Familienleben läßt die Kinder bereits von klein auf verwahrlost erscheinen. ... Der Schulbesuch ist äußerst unregelmäßig, einerseits durch das ständige Wandern, andererseits wird auch von Seiten der Eltern wenig Wert auf eine schulische Ausbildung gelegt. Viel wichtiger erscheint es ihnen, daß die Kinder Kniffe und Schliche erlernen .... . Üblicherweise heiraten Karrner untereinander und führen ein ähnliches Leben wie ihre Eltern und Großeltern. Sollte jedoch ein Karrner eine Nichtkarrnerin heiraten, wird er von der Gemeinschaft ausgeschlossen.“ Unter diesen sozialen Umständen weisen die demographischen Kennziffern eigenartige Wellenbewegungen auf: In der Zeit von 1701-1770 wird z.B. für das Heiratsalter der Frauen von 1731-1735 das Minimum von 20,2 Jahren (sic) und von 1751- 1755 das Maximum mit 35,0 (sic) Jahren durchlaufen. „Von 1800 bis 1880 nimmt das Heiratsalter der Frau den genau entgegengesetzten Verlauf als das des Mannes, das heißt, bildet die Kurve des Heiratsalters der Männer einen Wellenberg, sinkt das Heiratsalter der Frau und bildet ein Wellental und umgekehrt, sodaß sich die Kurven zweimal im 19. Jahrhundert überschneiden; 1830 und 1855 liegt das Alter der Frau über dem des Mannes. ... Die Zeit zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist durch ein sehr niedriges Heiratsalter der Frau und durch eine auffallend hohe biologische Ehedauer gekennzeichnet; die Kinderzahl erreicht mit ca. 7 pro Familie ein Extrem.“ Zwischen 1830 und 1840 erreicht die Kinderzahl in biologisch abgeschlossenen Erstehen mit 8,5 ihr Maximum.

1968 hatte Fliri seine methodische Anleitung noch einmal überarbeitet, wovon Salzburger (1972), der eine Dissertation vorlegt, die ganz allein in der Tradition der Innsbrucker Schule ruht, jetzt die Tabellen aber in einer Form bringt, die sie auch für eine Metaanalyse verwendbar macht. Für das von Salzburger untersuchte Brandenberger Tal war der Staatswald bis zur Auflassung der Trift der dominierende Wirtschaftsfaktor. „Der durchschnittliche Beschäftigtenstand im Forst belief sich in den letzten drei Jahrhunderten auf etwa 150 Mann. Diese Zahl gewinnt einen besonderen Aussagewert, wenn man in Betracht zieht, daß Brandenberg während dieses Zeitraumes nur an die 800-900 Einwohner zählte. ... Der Typ des Forstarbeiters war und ist der Kleinbauer oder der weichende Bauernsohn.“ Folglich unterscheidet Salzberger in allen Statistiken seiner Untersuchung zwischen Bauern, Nebenerwerbsbauern und nichtbäuerlicher Bevölkerung. „Für den Bauern war die Frau nicht nur Haushälterin und Erzieherin, sondern vor allem die wichtigste Arbeitskraft neben ihm. Daher war es für den Hofbesitzer fast unumgänglich notwendig, nach dem Tode der Bäuerin eine Zweitehe einzugehen. Mit dem Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung sank auch die Zahl der Wiederverehelichungen.“ Bei den Nebenerwerbsbauern liegt das Heiratsalter außerordentlich hoch, im 19. Jahrhundert bei durchschnittlich 35,8, mit einem Maximum von 41,8 Jahren um 1830, und das ihrer Frauen von 1851-1900 bei 34,3 Jahren. „Es handelt sich um die finanziell weitaus schwächste Schicht der ‘Inwohner’, ,Knechte, Mägde usw. und könnte als Beispiel dafür dienen, wie die wirtschaftliche Lage das Heiratsalter beeinflußt“ (S. 28). Für Bauern liegt die mittlere Kinderzahl in biologisch abgeschlossenen Erstehen für 1801-1850 bei 6,5 bei einer biologischen Ehedauer von 16,9 Jahren, für 1851-1900 bei 6,4 Kindern und 17,0 Jahren. Für die Nebenerwerbsbauern sind die entsprechenden Zahlen für 1801-1850 5,8 Kinder und 15,3 Ehejahre, für 1851-1900 5,3 Kinder und 14,5 Ehejahre. „Eine biologische Maßzahl, die aber bei der Kinderzahl keine so große Rolle spielt, wie man zunächst glauben möchte, ist das Durchschnittsalter der Mütter bei der letzten Entbindung. Die Häufigkeitsverteilung zeigt, daß der mittlere Wert bei der Gesamtbevölkerung unter dem häufigsten Wert liegt. Dieser beträgt 41 Jahre. Bei den Nichtbauern fallen mittlerer und häufigster Wert bei 38 Jahren zusammen.“ Salzberger gliedert die Hofgrößen nach ihrem Einheitswert in vier Größenklassen und untersucht die Heiratsbeziehungen der Bauern und Nebenerwerbsbauern im Zeitraum 1701-1970. U.a. stellt er dabei fest: Die Bräute der mittleren und großen Höfe werden vorzugsweise aus der gleichen Größenklasse der Höfe gewählt. „Nebenerwerbsbauern dagegen bevorzugen weitaus Frauen von größeren Höfen. Die Heiratsaussichten der Mädchen von Kleinst- und Kleinbetrieben sind nur halb so groß wie die der Töchter von Vollbauern. Diese geringere Heiratswahrscheinlichkeit im Tale ist sicher mit ein Grund, warum besonders viele Töchter von kleinen Höfen abwanderten.“ Das mittlere Heiratsalter des Mannes ist bei den Nebenerwerbsbauern 34,1 Jahre, bei den mittleren Bauern 32,6 Jahre und bei den großen Höfen 31,6 Jahre, das ihrer Frauen in derselben Reihenfolge 28,0, 27,3 und 26,8 Jahre, die Kinderzahl in den biologisch abgeschlossenen Erstehen 5,3, 6,7 und 7,4. Bei den Nichtvollbauern sind die Geburtenabstände höher. „Die Abgeschlossenheit des Brandenberger Tales läßt von vorneherein viele Verwandtschaftsehen erwarten.“ Der Anteil der Dispensehen wegen Blutsverwandtschaft stieg von 5,9% im Zeitraum 1701-1750 auf 11,9% von 1851-1900 und 12,2 von 1901-1950 und ist erst seitdem stark rückläufig. „Die Eheschließungen, in denen beide Ehepartner aus Brandenberg stammen, sinken nur wenig, und zwar um 4% je Jahrhundert (90%, 86%, 82%). In der Reihenfolge der sozialen Gruppen Nichtbauern - Nebenerwerbsbauern - Bauern steigt der Anteil der Ehen zwischen ortsbürtigen Partnern mit der Größe des Besitzes (79%, 87%, 92%)“. Ein eindeutiger Zusammenhang besteht zwischen Hofgröße und Abwanderung. „Je kleiner der landwirtschaftliche Betrieb ist, desto weniger kann das Tal die vom Hofe weichenden Erben festhalten. ... Bei den 9 größeren Höfen über 1000 m ist die Abwanderung am geringsten.“ Von 78 mittleren und großen Höfen ist jeder fünfte ein Erbhof. „Auf 38 Höfen, also der Hälfte, saßen seit 1700 nur ortsbürtige Bauern und Bäuerinnen. ... 18 von den 21 ältesten Sippen besitzen heute noch 80% aller landwirtschaftlichen Betriebe. ... Bei neun von zehn Hofbesitzern sind die Vorfahren seit mindestens 200 Jahren in Brandenberg ansässig.“ 85% aller vorkommenden Familiennamen entsprechen irgendeinem örtlichen  Hofnamen im Tal, aber nur in vier Fällen stimmen Hof- und Familienname noch überein. Salzberger geht dann auch noch darauf ein, wie Arbeit und Landschaft die Menschen prägten. „Im Gegensatz zu dem kleingewachsenen Alpbacher ist der Brandenberger groß und kräftig. ... Sicher hat auch die durch viele Generationen geübte Beschäftigung im Forst die Menschen mitgeformt. Während auf den weit verstreut liegenden Höfen jeder mehr oder weniger auf sich allein gestellt war, verlangte die Arbeit innerhalb der Holzpartien und das Gemeinschaftsleben in den Holzknechthütten, daß aufeinander Rücksicht genommen werden mußte, da Verträglichkeit und Hilfsbereitschaft erst den vollen Arbeitserfolg brachten. Beide Eigenschaften dokumentieren sich auch immer wieder in der Dorfgemeinschaft. Als vor einigen Jahren einem Kleinhäusler das Haus abbrannte, half das ganze Dorf mit, daß innerhalb kurzer Zeit eine neue und schönere Wohnstätte entstand. ... Ist in einem Hause zufällig niemand anwesend, so ist es selbstverständlich, daß inzwischen der Nachbar aushilft und das Geschäftliche erledigt. ... Alle diese Freundlichkeiten fallen in dem Fremdenverkehrsort Alpbach weg.“

Winkler (1973) hat die Gemeinde Martell in einem hochalpinen Seitental des Vintschgaus in Südtirol untersucht. „Nach einem ganz allmählichen Anstieg bis um 1800 setzt sich die Erhöhung des Heiratsalters der Männer ... bis zum Höchstwert von über 40 Jahren zwischen 1875 und 1880 beschleunigt fort.“ Die mittleren Kinderzahlen (die nachträglich legitimierten eingeschlossen) in biologisch bestehenden Erstehen der Bauern übertreffen stets die der Nichtvollbauern: 1801-1850 7,2 Kinder, Nichtvollbauern 5,7; 1851-1900 5,9 gegenüber 5,2; 1901-1950 6,3 gegenüber 4,8. Noch im Zeitraum von 1951 bis 1968 beträgt die Kindbettsterblichkeit 1%, was mit den Schwierigkeiten zusammenhängt, rechtzeitig ärztliche Hilfe in das entlegene Tal zu holen. Die Kindersterblichkeit wird von Winkler methodisch sauber in Trihemeral-, Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit gegliedert und für Bauern und Nichtvollbauern stets getrennt ausgewiesen. Für den Zeitraum seit 1800 wird untersucht, ob ein Zusammenhang zwischen der Ordnungszahl der Geburt und der Sterblichkeit bis zum 20. Lebensjahr besteht: I. Geburt 25,8% Sterblichkeit; II.-IV. Geburt 27,6%; V.-VI. Geburt 30,9%; VII.-IX. Geburt 32,2%; X.-XII. Geburt 34,6%.

Kinzl behielt sich lebenslang eine Zusammenfassung dieser Arbeiten vor, kam aber nie wirklich dazu. Fliri (1996) faßt einige Teilergebnisse (vgl. auch Bek 1953 und Ruesch 1979) verallgemeinernd so zusammen: „Ohne Erlaubnis der selbständigen Gemeinde durfte bis 1938 keine Erst-Ehe geschlossen werden, daher üblicherweise erst nach dem Tode der Eltern mit einem mittleren Heiratsalter der Männer von 33 und der Frauen von 30 Jahren, das zuweilen auf 40 bzw. 35 Jahre anstieg. Die mittlere biologische Ehedauer betrug 14 Jahre bei 5,5 Kindern, 24% Kinder- und 1,5% Müttersterblichkeit. Aus der Bilanz von Geborenen und Verstorbenen ist außerdem zu schließen, daß etwa ein Viertel der Geborenen ausgewandert ist. ... Bei diesen Maßzahlen besteht kein Unterschied zwischen dem westlichen Gebiet mit Realteilung und dem östlichen Gebiet mit unteilbaren Höfen (Anerbenrecht). Im Westen beträgt die Unehelichkeit von Kindern kaum 5%. ... Im Osten erreicht sie aber mindestens 10%, zuweilen auf 50% steigend.“

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