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Text aus: Weiss, Volkmar und Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig in Deutscher Bücherei und Deutscher Zentralstelle für Genealogie. 2. Auflage. Neustadt/Aisch: Degener 1998, S. 76-83

3. Die Pioniere

Primär war sicher der Gedanke, daß die Kirchenbücher - über Volkszählungen und offizielle Statistiken hinaus - eine zusätzliche Quelle sind, aus denen die Demographie schöpfen kann. Die ersten Versuche, die von den Pfarrern geführten schwedischen Haushaltsregister für eine offizielle Bevölkerungsstatistik Schwedens heranzuziehen, beginnen bereits mit dem Jahre 1721 und sind dem Interesse des Erzbischofs Erik Berzelius zuzuschreiben (4). Diese ersten Auswertungen waren, wie wir heute sagen, rein aggregativer Art, d.h., pro Jahr und Kirchspiel wurden Geburten, Heiraten und Todesfälle ausgezählt und ausgewertet. 1896 sprach der Pfarrer Julius Gmelin (5) auf der Generalversammlung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine über die bevölkerungsgeschichtliche Auswertung von 330 000 Eintragungen in 25 Pfarreien. Derartige aggregative Auswertungen und Statistiken gibt es bis zum heutigen Tage und wird es auch weiterhin geben. Sie sind aber nicht Gegenstand unserer Betrachtung. Manchmal sind aggregative Auswertungen einfach ein Zeichen von Unvermögen, insbesondere dann, wenn die Forscher sich entschuldigen, daß sie eigentlich eine nominative Auswertung machen wollten, aber aus Zeitmangel keine Familienrekonstitution anfertigen konnten, aber dabei nicht bemerkt haben, daß drei Kirchtürme weiter von dem Ort, den sie analysiert haben, eine ganze Landschaft mit fertigen Familienbüchern liegt. Wir werden im folgenden auch kaum die Bearbeitung der statistischen Kennziffern betrachten, die sowohl mit aggregativen als auch mit nominativen Methoden ermittelt werden können (wie etwa die Verteilung der Geburten auf die einzelnen Monate), sondern uns vorwiegend mit Fragestellungen befassen, die nur mit nominativen Daten beantwortet werden können.

Da sich eine Reihe von Fragestellungen nur mit nominativen Daten beantworten lassen, gilt die nominative Analyse zu Recht als eine höhere Form der Forschung. Es ist kein Zufall, daß in England der „Population History of England 1541-1871“ (6) 16 Jahre später eine „English Population History from Family Reconstitution 1580-1837“ (7) nachgefolgt ist, vom selben Erstautor E. A. Wrigley, der die zweite Arbeit als eine notwendige Erweiterung der ersten ansieht, sonst hätte er als Wissenschaftler nicht so hartnäckig gerade dieses zweite Ziel jahrzehntelang verfolgt. In Mitteleuropa bzw. im deutschen Sprachbereich sind wir von einem derartigen Forschungsstand wie in England und Frankreich noch weit entfernt, obwohl die Quellenlage in vielen Landschaften weit besser ist und etwa binnen 6 Jahren eine kleine Forschungsgruppe, auf Stichprobenbasis arbeitend (8), diese englische Bevölkerungsgeschichte übertreffen könnte. Im folgenden setzen wir selbstverständlich auch die Kenntnis des vorangegangenen Textes über Die Geschichte der deutschen Ortsfamilienbücher als bekannt voraus.

Es ist kein Wunder, daß in dem Land, wo es zuerst landesweit Familienregister gibt, auch die ersten wissenschaftlichen Auswertungen solcher Register gemacht werden. Schon 1828 schreibt J. D. Hofacker, außerordentlicher Professor der Medizin zu Tübingen: „Wir zogen aus den Tübinger Familienregistern 2000 Kinder, mit genauer Bemerkung ihres Geschlechts, des Alters der Eltern und der Anzahl der Ehen tabellarisch aus, wodurch wir in Stand gesetzt wurden, den wahrscheinlichen Einfluß des Alters der Eltern ... zu berechnen.“ - Die zweite (wir folgen dabei Weinberg 1907) auf Grund der Familienregister durchgeführte Untersuchung stammt von dem Nationalökonomen Gustav Rümelin (1875), der aus dem Tübinger Familienregister 500 fruchtbare Ehen auswertete, denen 69 unfruchtbare entsprechen. Rümelin fand, daß der Zeitraum zwischen der Eheschließung und der Geburt des letzten Kindes durchschnittlich 12,2 Jahre betrug (dabei bei 8% der Ehen über 20 Jahre). Aus den 569 Ehen insgesamt gingen durchschnittlich 5,3 Kinder hervor. Aus der durchschnittlichen Dauer der ehelichen Fruchtbarkeit berechnet Rümelin die Dauer einer Generation, d.h. die durchschnittliche Zeit zwischen der Geburt der Eltern und Kinder auf 36,5 Jahre.

Einer der eifrigsten Pioniere der Familienbuchschreibung, Stephan Glonner in Bayern, war einer der ersten (Glonner 1895), von denen uns eine statistische Analyse solcher Bücher bekannt ist. Die Redaktion (d.h. Georg von Mayr) merkte an: „Die vorliegende Arbeit haben wir in das Allgemeine Statistische Archiv gerne aufgenommen, nicht nur um ihres Inhalts willen, sondern weil wir hoffen, dass diese praktische Anregung zur Pflege der historischen Lokalstatistik in weiteren Kreisen aufmuntern wird.“ Die Arbeit ist aber nicht besonders originell. Die meisten Zahlen sind nur einfache Häufigkeiten der Hauptlebensereignisse pro Jahr und Gemeinde, die man ebensogut ohne Familienbuch aus den Kirchenbüchern hätte auszählen können. Aber immerhin: Für den 1.1.1868 veranstaltet Glonner mit den Familienbüchern so eine Art fiktive Volkszählung, und es gibt eine Auflistung der Anwesen, die seit etwa 1600 vom Vater auf den Sohn vererbt werden (allerdings ohne daß die Gesamtzahl aller Anwesen, die es in jeder Gemeinde gibt, genannt wird).

Die Arbeit von Roller über Durlach (Roller 1907) hingegen wird weltweit als Klassiker zitiert. „In der vorliegenden Arbeit ist ein meines Wissens noch nicht ... unterbreiteter Versuch gemacht worden, genealogische Arbeitsmethoden zur Beleuchtung wirtschaftlicher Verhältnisse zu verwenden. Anregungen dazu erhielt ich auf verschiedene Weise, die erste verdanke ich einer gelegentlichen, in einer Vorlesung (über praktische Nationalökonomie, Marburg, Wintersemester 1896/97) meines ... Lehrers, Herrn Prof. Dr. Rathgen. Weiter wurde der darin enthaltene Gedanke durch eine langjährige Beschäftigung mit genealogischen Untersuchungen an Stamm- und Ahnentafeln, welche mir immer von neuem die Überzeugung aufdrängten, daß eine nach einheitlichen Gesichtspunkten erfolgte Bearbeitung und systematische Zusammenfassung von genealogischen Tabellen eines bestimmten ... umschlossenen Bevölkerungskreises in mancher Beziehung eingehendere und zuverlässigere Ergebnisse liefern könnte, als es bei einem alleinigen Studium von Akten ... möglich ist,“ ... schreibt im Vorwort Roller selbst, der die Kirchenbucheinträge zu Stammtafeln ihrer Bewohner verarbeitete. Auch die Idee der fortlaufenden Volkszählung wird von ihm bereits verwirklicht: „Für jede einzelne Person ... wurde ein Zeichen (Jahres-Einwohnerstrich) gemacht“ (S. XV). Roller arbeitet auch mit einer sozialen Gliederung der Bevölkerung, die über die Kirchenbucheinträge hinausgreift und alle verfügbaren anderen Quellen des Stadtarchivs einbezieht. Er stößt dabei auf das methodische Problem, daß die Bezeichnungen in der historischen Zeit nicht konstant sind. Bei dem Vergleich von Namenlisten der Einwohnerzählungen im 18. Jahrhundert mit den aus den Kirchenbüchern gewonnenen Listen muß er feststellen, „daß die alte Bezeichnung der Listen heutzutage leicht irreführen kann. ... Dahin gehört vor allem die Bezeichnung Einwohner (Inwohner), welche in einer uns jetzt völlig willkürlich erscheinenden Weise auf bestimmte Klassen der Einwohnerschaft beschränkt wurde“ (S. XVIII). Schwerpunkt seiner Auswertungen sind die Einwanderung nach und die Abwanderung von Durlach, dann die Statistik der Hauptlebensdaten, auch untergliedert nach Berufsgruppen der Väter. Schaut man sich die Arbeit aber heute, 90 Jahre später, kritisch an, dann entdeckt man nur wenige Statistiken, die auf der Besonderheit seines Materials, also der familienweisen Zusammenstellung, beruhen und nicht auch mit aggregativen Zählungen hätten erreicht werden können. Das ist auch schon den Zeitgenossen aufgefallen, und wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die qualifizierte Kritik von Eulenburg (1908), der meinte, daß die schon damals vielgelobte Arbeit weit unterhalb der statistischen Auswertungsmöglichkeiten des eigenen Materials geblieben sei.

Im unmittelbaren geographischen Umfeld haben sich dennoch Personen gefunden, die sich in ihren Arbeiten ausdrücklich auf Roller und seine Arbeitsmethode als Vorbild beziehen. So verteidigt 1921 Rudolf Berger in Freiburg im Breisgau eine maschinengeschriebene Dissertation über die Kleinstadt Burkheim. Tabelle 4 weist für 100 verheiratete Frauen die Anzahl der Geburten im Alter von 15-50 Jahren aus, eine andere Tabelle den Prozentsatz der unehelichen Geburten usw. Ebenfalls in der Tradition der Rollerschen Arbeitsweise stehen, so bei Berger (1921) zu lesen, auch die Heidelberger Dissertationen von Lauber (1921) über Obergrombach und „Dr. Wagner über Gengenbach in Baden“. Tatsächlich weist auch das Verzeichnis von H. Franz „Die Kirchenbücher in Baden“, Karlsruhe. G. Braun 1938, für 1921 eine Freiburgische Dissertation „Die Bevölkerung des Kirchspiels Gengenbach im 17. und 18. Jahrhundert“ eines K. Wagner auf, jedoch konnte die Arbeit bisher nicht aufgefunden werden. Dabei fällt auf, daß ein Karl Wagner (derselbe ?), Pfarrer in Bernloch, 1916 eine erste Arbeit mit bevölkerungsstatistischen Auswertungen von Württemberger Familienregistern für den Zeitraum 1740-1910 vorgelegt hatte, die auf die Beantwortung der Frage hinauslief: „Welche Familien sind für die Volksvermehrung am ertragreichsten, eine Frage, die ja wohl vielleicht einmal bei einer kommenden Regelung der Frage der Berücksichtigung kinderreicher Familien bei der Besteuerung in Betracht kommen könnte.“ In den untersuchten Gemeinden Bernloch und Meidelstetten war im 17. und 18. Jh. die Säuglingssterblichkeit niedriger als im 19. Jh. und erreichte in Meidelstetten in der Dekade 1851-1860 60%. Wagner, der dabei noch nicht, wie später Heckh (1952), auf soziale Unterschiede achtet, sondern keinerlei soziale Differenzierung seiner Daten vornimmt, kommt zu dem Ergebnis: „Wir sehen, daß eigentlich erst die Ehen von 5 Kindern an aufwärts den Volksüberschuß hervorbringen, ... die Ehen mit 1 Kind einen Abmangel von 1,47, in den Ehen mit 2 Kindern von 0,46, in den Ehen mit 3 Kindern einen kleinen Überschuß von 0,31, die Ehen mit 4 Kindern einen solchen von 0,84, wobei übrigens auffallend ist, daß, während bei den Ehen von 1 und 2 Kindern der Unterschied in der Lebendigerhaltung 1,01 ist, der Unterschied bei 3 und 4 Kindern nur 0,53 ist.“ Dann bemerkt Wagner, daß es sich nur um vorläufige Zahlen handelt, da er ja nur die Sterblichkeit im 1. Lebensjahr betrachtet hat, bis zur möglichen Heirat aber noch weitere Kinder sterben. Aber immerhin klingt bei ihm die Frage des „unterschiedlichen Elterninvestments“, wie man es heute nennen würde, schon deutlich an. Für die unehelichen Kinder stellt Wagner fest, daß in Meidelstetten für 1770-1895 insgesamt 69 uneheliche Kinder geboren worden sind, aber „nur 14 uneheliche Kinder aus einer Familie mit 1 unehelichem Kind stammen, während 55 = rund 80%, also fast ganz genau die gleiche Zahl wie in Bernloch, aus Familien mit mehreren unehelichen Kindern stammen.“

1915 (9) ist in einer wichtigen schwedischen Zeitschrift in schwedischer Sprache von Karl Arvid Edin eine Auswertung der Geburten in den Familienbüchern der Gemeinde Tortuna für den Zeitraum 1641-1850 veröffentlicht worden, sehr detailliert, der Zeitraum geschickt in 30-Jahres-Abschnitte gegliedert, die Fruchtbarkeit pro 100 Frauen nach Kohorten unterteilt (also für das Lebensalter 15-20 Jahre, 20-25 Jahre usw. und für 15-45 bzw. 50 Jahre insgesamt), auch die mittleren Geburtenabstände werden berechnet. Leider dürfte diese professionelle Pionierarbeit in Deutschland überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden sein, und man ist auf ihre Existenz erst durch die Verstärkung der internationalen Kontakte in den letzten Jahrzehnten aufmerksam geworden. Ebenso ist es dem Dänen Bang (1871-1915) ergangen, der bereits 1906 ein Büchlein mit Kirchenbuchauswertungen vorgelegt hatte. In den nordischen Ländern gibt es - wie übrigens auch im mitteldeutschen Raum, wo derartige Materialien bis heute noch unausgewertet geblieben sind - von einer Reihe Kirchgemeinden Leichenpredigt- bzw. Lebenslaufsammlungen mit zum Teil vollständigen Lebensdaten (Anzahl der lebenden und verheirateten Kinder usw.) aller Einwohner über mehrere Jahrzehnte hinweg. Bang hat erstmals derartige Daten ausgewertet. Obwohl sein dänisch geschriebenes Buch z.B. in der „Königlichen Bibliothek“ in Berlin vorhanden war (und ist), darf bezweifelt werden, daß es jemals von jemandem gelesen worden ist.

Kein geringerer als Wilhelm Weinberg (1862-1937) war es, der um die Jahrhundertwende (1907) den wissenschaftlichen Wert der württembergischen Familienregister entdeckte. Jedem Genetiker und vielen Wissenschaftshistorikern ist der Name Weinberg aus dem Hardy-Weinberg-Gesetz der Populationsgenetik ein Begriff. „Weinbergs geistiges Leben war es, das ihm seine einzigartige Stellung verlieh“, schrieb Curt Stern (10) anläßlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstags. „Trotz der großen Ansprüche, die ihm sein ärztlicher Beruf stellte, fand er bis zu seinem Ende die Kraft, weite Gebiete der Humangenetik und der medizinischen Statistik intensiv zu erforschen. Der aufs tiefste originelle Mann entdeckte grundlegende Phänomene zu einer Zeit, in der er fast allein auf den Gebieten seiner Interessen tätig war. ... Weinberg sagte einmal selbst, daß sein Interesse an Erbphänomenen seinen Ausgang von seiner geburtshilflichen Praxis genommen hatte.“ Er wertete die Stuttgarter Familienregister und die von 4 Dörfern in folgender Weise (Weinberg 1902) aus: „Es ist also möglich, aus diesen Familienregistern die Familien mit Mehrlingsgeburten auszuziehen und auf Zählkarten deren Gesammtkinderzahl, Geschlecht der Mehrlingsgeburten und sämmtlicher Kinder, speziell auch den direkt vorhergehenden und folgenden, die Sterblichkeit der Zwillinge bei der Geburt und im Kindesalter, ferner die Kinderzahl und Mehrlingsgeburten bei den Müttern, Schwestern und Töchtern (selbstverständlich ebenso auch für die nahestehenden männlichen Verwandten der Mehrlingsmütter), das Alter bei der Zwillingsgeburt, die Dauer der Fruchtbarkeit festzustellen ... .“ Weinberg kam zu dem richtigen Schluß, daß das Verhältnis von monozygoten Zwillingen zu dizygoten Zwillingsgeburten aus den statistischen Daten über die Geschlechtsverhältnisse von sonst nicht weiter definierten Zwillingsgeburten abgeleitet werden kann. Diese heute als Differenzmethode bekannte Analyse beruht auf der Überlegung, daß eineiige Zwillinge stets gleichgeschlechtig sein müssen, daß aber zwei Eier zu Zwillingen führen, in denen die Geschlechterkombinationen zufallsgemäß bestimmt werden. In einer späteren Arbeit (Weinberg 1909) konnte er dann zeigen, daß es zwar eine Vererbung der Tendenz zu Zwillingsgeburten gibt, daß diese aber nur für dizygotische Zwillinge aufgezeigt werden kann. „So fanden sich in den Stuttgarter Familienregistern unter 1586 Zwillingsmüttern mit 20jähriger Ehedauer und durchschnittlich 6,5 Geburten nur 93 oder 5,6% mit wiederholten Mehrlingsgeburten.“ - Weitere Untersuchungen Weinbergs (wir folgen seiner eigenen Übersicht von 1907) mit Hilfe der Stuttgarter Familienregister, teilweise mit Ergänzungen aus Dörfern, betrafen die Ursachen des Krebses und der Tuberkulose. „Bei sämtlichen 1873-1902 in Stuttgart an Krebs Verstorbenen wurde mit Hilfe der Familienregister die Kinderzahl, bei sämtlichen an Tuberkulose gestorbenen Verheirateten das Schicksal des letzten ehelichen Kindes festgestellt ... . Weiterhin konnte mit Hilfe der Stuttgarter Familienregister die Frage untersucht werden, ob eine Ansteckung zwischen Ehegatten mit Krebs oder Tuberkulose häufig vorkommt.“ Die Antwort war für Krebs negativ, für Tuberkulose positiv. Darüber hinaus ging Weinberg auch der Frage der Vererbung von pathologischen Eigenschaften nach. „Beim Krebs wurde nur das Schicksal der Eltern und Geschwister der Verheirateten, bei der Tuberkulose auch das der letzten Kinder festgestellt. Die Hinweise auf Band und Nummer des Familienregisters der Eltern ermöglichten es, alle Fälle zu verfolgen. ... Aus dem Mitgeteilten dürfte zur Genüge hervorgehen, daß sich die württembergischen Familienregister als eine wertvolle Quelle der wissenschaftlichen Arbeit erwiesen haben. Sie haben eine Reihe von Arbeiten durch die in ihnen gegebene Zusammenfassung von Angaben über Herkunft und Schicksal der Familien nicht nur dadurch gefördert, daß sie eine Ersparnis an Zeit und Kosten ermöglichten, sondern eine Reihe von Arbeiten war ohne diese Einrichtung überhaupt kaum ausführbar. Die bisher mit ihrer Hilfe geleistete Arbeit stellt aber nur einen Bruchteil dessen dar, was auf Grund der Familienregister erreicht werden kann.“

Noch vor dem 1. Weltkrieg ist dann eine weitere Arbeit erschienen, die, wenn sie in ihrer Bedeutung in weiten Kreisen (z.B. von Alpha-Persönlichkeiten wie Scheidt, Wülker, Heckh, Kinzl und Fliri - wir gehen später auf deren Arbeiten ausführlich ein) verstanden und aufgegriffen worden wäre, die Forschung hätte um Jahrzehnte beschleunigen können. Sigmund Schott wertet (1910) die Familienunterlagen von Mannheim aus - und das ist das Revolutionäre an der Arbeit - aber nicht total, sondern nur Stichproben. Die Zahl der nach der Polizeivorschrift von 1807 in Mannheim angelegten 4000 Familienbogen war bis 1900 auf 80 000 angewachsen. „Ob jemals ein Statistiker diesem Riesenmaterial sein Zahlengeheimnis abtrotzen wird? Mit der Lieblingswaffe der Statistik, der „erschöpfenden“ Durchzählung kaum, vielleicht gelingt es aber einmal einem Findigen, mit Hilfe der repräsentativen Methode das Ungetüm zu überlisten. .... Knapp 1/12 des Materials, die Buchstaben A und B werden untersucht, und diese werden auf Karten übertragen.“ Die anderen Buchstaben „ließen wir weg, überzeugt davon, daß die Müller, Schmidt und Maier nach gleichen Regeln absterben und sich fortpflanzen wie die Träger andrer Namen.“ Schott (geb. 1868 in Leipzig), Professor für Statistik und Verfasser eines in mehreren Auflagen erschienenen Lehrbuchs der Statistik, war ein Mann, der sich wissenschaftlich in der vordersten Forschungsfront bewegte. Daß man anstatt mit aufwendigen Totalerhebungen verläßliche Ergebnisse auch mit Stichproben erreichen kann, ein Gedanke, der heute noch manchem Historiker eher ein Horrorgemälde zu sein scheint als eine wissenschaftlich saubere Idee (vgl. 11) - man sehe sich nur einmal die ablaufende Forschung an (so daß man geneigt ist, Nietzsche zu zitieren, der gesagt hat, daß man die Größe eines Gedankens an den Zeiträumen messen kann, die es zu seiner Durchsetzung braucht), diese Diskussion um Stichproben war um 1900 in der Angewandten Statistik gerade erst in Gang gekommen. Die aus den Naturwissenschaften schon früher bekannte Stichprobenmethode war erstmals 1891 (12) bei der Volkszählung in Norwegen angewendet worden, wurde aber vom Herausgeber des „Allgemeinen Statistischen Archivs“ (und damit offiziellem Meinungsführer in Deutschland) Georg von Mayr 1897 heftig attackiert, der weiterhin „erschöpfende Massenbeobachtungen“ verlangte. Schott aber ging es um praktische Erfahrung mit Stichproben und zugleich um theoretische Vertiefung der Grundlagen (13). Inhaltlich ging es ihm 1910 um die folgenden Fragen: 1. das Überleben und Erlöschen von Familien (bzw. von Familiennamen), 2. die Tradierung („Vererbung“) von Beruf und sozialer Stellung, 3. die Kinderzahlen in den Generationen, 4. den Abstand und das Zusammenleben der Generationen und 5. um den Zusammenhang von Kinderzahl und durchschnittlichem Heiratsalter. Z.B. ermittelte er den genealogisch bedeutsamen mittleren Altersunterschied zwischen dem Stammvater und dem männlichen Erstgeborenen der nächsten Generation, also zum ältesten Sohn mit 33 ¼ Jahren, zum ältesten Enkel mit 63 Jahren und zum Urenkel mit 95 Jahren.

Zu den Pionierarbeiten gehört zweifellos auch die Monographie von Maria Bidlingmaier (1918). Frau Bidlingmaier untersuchte ihren Heimatort, das Landstädtchen Lauffen - 9 km von Heilbronn entfernt -  einen Ort mit Freiteilbarkeit und Besitzgrößen von überwiegend 2 - 6 Hektar und Weinbau, und verglich diesen Ort mit dem Dorf Kleinaspach, 28 km von Heilbronn entfernt, mit Anerbensitte und Besitzgrößen von 4 - 10 Hektar.  „Es handelt sich um die schwäbische Bäuerin in zwei Gemeinden ..., einer Gemeinde mit Industrie und Verkehr und in der Nähe einer grösseren Stadt, und einer solchen ohne Industrie, ohne Verkehr und ohne die Nähe einer grösseren Stadt. ... Es soll untersucht werden ... wie weit die Rationalisierung in der Landwirtschaft die ... Bäuerin mitergreift.“ Neben den statistischen Daten, die aus den Familienregistern ausgezogen wurden, sind - in der Zeit unmittelbar vor dem I. Weltkrieg - 113 Familien direkt befragt worden. Man würde heute sagen: Es wurden jeweils mehrstündige Interviews durchgeführt, teils frei, teils strukturiert. „Von mir wurde dies Material (gemeint sind die württembergischen Familienregister) noch dahin vervollständigt, dass ich in persönlichen Nachfragen Aufenthalt und Stand jedes der erwachsenen bäuerlichen Kinder erkundete und zusammentrug, um so einen Überblick über die soziale Lage derselben und über die Grösse ihrer Abwanderung zu erlangen.“ Die Arbeit ist außerordentlich reichhaltig und verbindet statistische Ergebnisse (auf deren Details wir hier verzichten, da sie in anderen Arbeiten später wiederkehren) mit einer anschaulichen Schilderung der für Volkskunde und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bedeutsamen Gegebenheiten. „Was Maria Bildingmaier jedoch scharf trennt von der Volkskunde ihrer Zeit liegt im Bereich ihres qualitativ und quantitativ vorgehenden Ansatzes: in ihrer Methode detailliert-präziser Beobachtung, exakter Beschreibung und Analyse,“ so urteilt C. Köhler-Hezinger im Nachwort des mehr als 70 Jahre später erschienenen Nachdrucks der Arbeit. Hinter den Verallgemeinerungen von Maria Bildingmaier steht stets konkretes Wissen (z.B. über die Stillgewohnheiten), so daß sich die Arbeit als ausgezeichnete Quelle für Zitate zur sozialen Verhaltensgeschichte eignen dürfte. „Der Bursche kommt mit zwanzig zum Militär. ... Es ist die Zeit, wo er ernstlich mit der Liebschaft beginnt. ... Nur der reiche Hofbauernsohn ist berechnender und wartet zu. Sein Verhältnis zu der Magd ist dann nicht immer einwandfrei.“ Zu den Verhältnissen in Kleinaspach: „Wo die ‘Liebesverhältnisse’ ernste Heiratsabsichten in sich tragen, spielt oft die Berechnung eine Rolle. Es gilt, eine ‘Partie“ zu machen, d.h. es gilt, so ein Mädchen zu finden, das mit seinem Vermögen dem Burschen gleichkommt und umgekehrt. Wo die Liebe diese Linie nicht einhält, wird sie von den Alten heftig bekämpft. Auch langjährige Verhältnisse müssen nicht unbedingt zur Heirat führen. Es kann geschehen, dass das Mädchen ihren langjährigen Bewerber um eines Reichen willen fahren lässt, der aus der weiteren Umgebung auftaucht.“  In Lauffen: „Es gibt eine stille Heiratspolitik, die alle bäuerlichen Familien nach dem Besitzstand ordnet (vgl. dazu die analogen Ergebnisse von Hanke unter ‘Soziale Mobilität’ weiter hinten). In seinem Kreis Vermögensgleicher sieht sich der heiratsreife Bursche mit den Seinen um. ... Eine Base, ein Vetter muss in der Familie des Mädchens ‘horchen’, ob der junge Mann Aussicht als Bewerber hat.“ Und zu den beiden Orten im Vergleich: „Burschen und Mädchen kommen dort, in Kleinaspach, durchschnittlich später zur Heirat als hier in Lauffen, eine Erscheinung, die fast gesetzmäßig bei Hofwesen und Freiteilbarkeit auftaucht.“

Im Verhältnis zu den selbst hoch gesteckten Zielen sehr bescheiden waren die eigenen Ergebnisse, die Brandner und seine Mitstreiter in der Steiermark veröffentlicht haben. Zwei Aufsätze (Brandner 1922 und 1929) über die Statistik der Taufnamen in der Pfarrei Haus, ein Aufsatz über Besitzerfolgen (Graf 1928 und 1929), sonst nichts. Erst Keiter (1935) wertet dann wenigstens aus den 1920 von Brandner veröffentlichen Stammtafeln von Weichselboden die wichtigsten Daten aus.

 Folgenlos für die weitere Forschung ist die Arbeit von Ziermer (1908) geblieben, da sie den methodenkritischen Ansprüchen der späteren Zeit nicht standhält. Es handelt sich um eine sehr fleißige, aber im Deskriptiven steckengebliebene Arbeit aller Stämme eines Dorfes (vgl. Petzold 1989) mit durchaus richtigen Beobachtungen, z.B. über die Häufung von Depressionen, Selbstmord und Alkoholismus im Stamm Palmer oder über die Häufung von öffentlichen Ämtern und Talenten in anderen Stämmen. Da es aber über Frauen in historischen Materialien keine oder fast keine Angaben gibt, führte das Ziermer zu dem völlig falschen Schluß: „Als ein Hauptresultat muß betrachtet werden, daß die verschiedenen Familieneigenschaften sich in der männlichen Linie fortvererben, während bis auf einzelne Ausnahmefälle der Einfluß der weiblichen Linie wenig oder gar nicht zu bemerken ist.“

In dem damals einflußreichen, fachübergreifenden „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie“ erschien 1923 (Ruf 1923) eine Auswertung des Familienbuches der Kirchgemeinde St. Peter im Schwarzwald, das bis 1630 zurückreicht. „Auf eine 15 Jahre dauernde Ehe treffen im Durchschnitt 6,4 Kinder. Die Bauern, allein betrachtet, übertreffen diesen Durchschnitt. Bei ihnen kommen auf die Familien 8,8 Kinder. Noch größer wird dieser Unterschied, wenn man die Kinder auf Haus und Hof berechnet (also auch die aus zweiter und dritter Ehe). Dann treffen nämlich 9,4 Kinder auf einen Hof.“  In der gleichen Zeitschrift war der schwedische Anthropologe Hermann Lundborg, der auf Deutsch veröffentlichte, kein Unbekannter. Er hatte 1898 mit Bevölkerungsuntersuchungen in Blekinge begonnen und diese 1912 abgeschlossen. Anläßlich der Gründung eines „Schwedischen Staatsinstituts für Rassenbiologie“ am 1.1.1922 unter seiner Leitung schrieb er im „Archiv ... „ (14) unter dem Punkt „Nächste Arbeitsaufgaben des Institutes“: „Da die Mittel, welche während der letzten Jahre ... zu des Verfassers Verfügung standen, in höchstem Grade unzureichend waren, konnten meine Untersuchungen ... nicht in dem wünschenswerten Umfange ausgeführt werden. Es galt da, mit Hilfe von Kirchenbüchern und anderer Urkunden von der Bevölkerung ganzer Dörfer ... Stamm- und Ahnentafeln aufzustellen. Und dann mit diesen Tafeln als Wegweiser ... die jetzt lebende Bevölkerung ... zu untersuchen. ... Mit den Geldmitteln ..., welche gegenwärtig zu erlangen sind, soll eine übersichtliche medizinisch-demographische Monographie über die Bevölkerung in Norbottens Län in wenigen Jahren ausgearbeitet werden. Ein Län (Regierungsbezirk) nach dem andern wird mit der Zeit ... auf diese Weise erforscht werden. Solche Monographien existieren überhaupt noch nirgends, weder in unserm Land noch im Auslande.“ Zu den Lesern dieses Beitrages gehörte mit Sicherheit Walter Scheidt. Für dessen erste Monographie wird im selben Jahr auf dem Umschlag des „Archivs ...“ geworben.

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