Familiengeschichtliche Massenquellen der Mobilitäts- und Sozialstrukturforschung

 Volkmar Weiss

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5. Diskussion der verschiedenen Forschungsansätze

     Repräsentative Stichproben sind in der Sozialgeschichte bisher noch wenig gezogen worden. Warum eigentlich? Will der Historiker, nehmen wir an für Böhmen im 17. Jh., den Handwerkeranteil auf dem Lande feststellen und hat er keine Steuerlisten oder ähnliche Quellen, die Gesamtzahlen liefern oder aus denen sich wenigstens für größere Teilgebiete die Anteile schätzen lassen, dann geht er in der Regel bisher so vor, daß er aus lokalen Studien Angaben über den Landhandwerkeranteil heraussucht. Hat er mehrere Angaben gefunden, dann verallgemeinert er oder versucht bei kritischer Haltung zu den Einzeluntersuchungen zu verallgemeinern. Das ist der bisher gängige Weg, aus vorliegenden Einzeluntersuchungen zu Verallgemeinerungen zu gelangen. Denn Einzeluntersuchungen von Berufshistorikern werden in der Regel nicht um ihrer selbst willen durchgeführt, sondern um schließlich daraus zu Verallgemeinerungen in Zeit und Raum zu gelangen. Brachten Einzeluntersuchungen Unterschiede in den Zahlen und Entwicklungen, dann sucht der Historiker bei der vergleichenden Verallgemeinerung auch nach systematischen Ursachen für diese Unterschiede, etwa in einer unterschiedlichen Eigentumsstruktur bzw. unterschiedlichem Entwicklungsstand. Statistische Prüfungen, ob die gefundenen Unterschiede vielleicht nur in der Streubreite des rein Zufälligen liegen, findet man in historischen Fachzeitschriften noch sehr selten.

   Einen deutlichen Fortschritt stellt schon das Verfahren von Imhof [27] dar, der jeweils mehrere nebeneinanderliegende Dörfer in mehreren Territorien untersucht hat und damit anstrebt, für Deutschland insgesamt aussagekräftig zu sein, weil bei diesem Vorgehen die größere Stichprobengröße etwaigen Fehlschlüssen entgegenwirkt.

   Die Stichprobentheorie [28] verlangt, daß alle Dörfer und Städte, etwa Böhmens, erst einmal gleichberechtigte Elemente der statistischen Grundgesamtheit Böhmen sind und daraus zufällig eine bestimmte Anzahl von Orten auszuwählen sei (z.B. aus einer Lostrommel mit allen Ortsnamen). Eine Auswahl von 404 Kirchgemeinden lag der Bevölkerungsgeschichte Englands zugrunde, die Wrigley und Schofield [29] mit ihrem Mitarbeiterstab untersucht haben. Nur mit diesem Zufallsverfahren können Ergebnisse erzielt werden, die als repräsentativ bezeichnet und gültig verallgemeinert werden können. Wenn man sich streng an diese Theorie hält, wie sie bei Forschungsproblemen der Gegenwart von Soziologen und Demographen auch immer wieder praktisch durchexerziert wird, dann muß man den Schluß ziehen, daß die Historiker bislang nur wenige Verallgemeinerungen hätten aufstellen dürfen. Diese Argumentation kann deshalb so nicht stimmen.

     Stellen wir uns einmal vor, der Historiker würde im 17. Jahrhundert tatsächlich so vorgehen, wie es die Stichprobentheorie fordert. Er hätte z.B. 20 Städte und 60 Dörfer verschiedener Größenklassen - also eine geschichtete Stichprobe - zufällig verteilt für ganz Böhmen ausgelost und wollte nun den Landhandwerkeranteil, teils aus lokal erhaltenen Steuerunterlagen, teils aus den Kichenbüchern ermitteln. Er würde dann aber rasch feststellen, daß bei wenigstens einem Drittel der ausgelosten Orte die Quellen vernichtet sind, aus denen er die Handwerker herausfinden wollte, bei einem weiteren Drittel der Orte sind die Quellen mehr oder weniger unvollständig oder unbrauchbar, und bei dem restlichen verbliebenen Drittel, die von Ort zu Ort unterschiedlich detailliert Handwerker überhaupt mit Berufen ausweisen, erhebt sich dann sofort die Frage, ob diese Orte noch eine Zufallsauswahl darstellen (dann nicht mehr, wenn z.B. die Ausführlichkeit der Kirchenbuchführung und die Angabe von Berufen mit dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand eines Ortes korreliert) oder die Quellenverluste zu systematischen Verzerrungen der Ergebnisse führen. Der Untersucher wird aber auch feststellen, daß in Nachbarorten der ausgelosten Orte und in anderen Orten vergleichbarer Größenordnung die Quellen nicht nur erhalten sind, sondern in einigen der nicht in der Zufallsauswahl enthaltenen Orte sogar in besonderer Qualität. Und hier ist der Punkt erreicht, an dem vernünftige Überlegungen schon immer ansetzen.

    Historische Forschung hat bisher vor allem nach Orten gesucht mit einer Quellenlage, die besonders reichhaltig ist, ja einmalig. Günstige Quellenlage bedeutet auch manchmal aus Gründen der Forschungsökonomie, daß bereits Bearbeitungen der Originalquelle verhanden sind, d.h. Verdichtungen des Materials, wie OFB und alphabetische Kirchenbuchverkartungen [30] , die gezielt aufgespürt werden. Es wäre unangebracht - von einer formalen Interpretation der Stichprobentheorie ausgehend - diese gängige Forschungspraxis als unwissenschaftlich zu bezeichnen. Im Gegenteil, es gilt die bisherigen Methoden und bewährten Denkweisen der Historiker mit brauchbaren Forderungen der systematischen Auswahlverfahren anzureichern. Eine Verbindung beider Ansätze könnte z.B. so aussehen: Städte und Dörfer werden in Größenklassen gegliedert und mit der Lostrommel "Klumpen", d.h. Zufallsgruppen gebildet. Dann wird erst einmal geprüft (oder diese Prüfung zuallererst), wie in den Archiven die Quellenlage für das gestellte inhaltliche Ziel ist. Alle ungeeigneten Orte werden gestrichen, aus jeder Zufallsgruppe ein oder mehrere verbliebene geeignete Orte (je nach Auswahlplan) in die Stichprobe einbezogen, so daß man mit gutem Grund von einer repräsentativen Auswahl sprechen kann. Zu empfehlen ist auch, für jeden zufällig ausgewählten Ort noch ein oder zwei "Stellvertreter" mit auszulosen, da es oft solche forschungspraktischen Gründe gibt, wie etwa den, einem den Wohnort des Doktoranden nähergelegenen Ort zu bevorzugen.

    In der Geschichtsforschung gibt es die zusätzliche Möglichkeit, auf der Zeitachse selbst Stichproben zu ziehen [31] . Langfristige Trends lassen sich ebenso ermitteln, wenn man z.B. nur jedes zweite, also meinetwegen gerade Jahr erhebt oder jede gerade Dekade oder nur jede zweite Generation. - Einen Ort zu erfassen, verlangt keinesfalls, alle Einwohner zu erfassen. Wenn man pro Generation (30 Jahre) rund 2200 Familien auslost, dann dürfte es für die Landgemeinden (repräsentativ für den deutschen Sprachraum) ausreichen, sie aus 200-400 Gemeinden zu ziehen, pro Gemeinde, je nach Größenklasse, also 4-10 Familien. Eine ausreichende Zahl von OFB liegt inzwischen vor. Um eine für Mitteleuropa repräsentatuve Verteilung über alle Territorien zu erreichen, wird an der weiteren Zentralisierung von Karteien und Manuskripten in Leipzig gearbeitet. Eine Zufallsauswahl von einem Prozentsatz der Einwohner nach irgendeinem sinnvollen Verfahren (nach dem Anfangsbuchstaben des Familiennamens z.B. oder die in ungeraden Monaten Geborenen oder alle auf der rechten Seite eines Kirchenbuches Getrauten) genügt ebenso.

       Von 26 Kirchgemeinden, von denen Familienrekonstitutionen (also praktisch OFB nach unserer Terminologie) vorliegen, sind alle Daten zu einer Stichprobe addiert worden, die als Grundlage der in Arbeit befindlichen "English Population History from Family Reconstitution" dient. "Diese Kirchgemeinden wurden genommen wegen der hohen Qualität ihrer Kirchenbücher und weil ihre addierte Berufsstruktur im frühen 19. Jahrhundert der des gesamten Landes ähnlich ist. Darüber hinaus sind die Zeitreihen für Taufen, Heiraten und Todesfälle in ihrem Verlauf den 404 Gemeinden sehr ähnlich, auf denen die Bevölkerungsgeschichte Englands von Wrigley und Schofield beruht." [32]

    Eine repräsentative Untersuchung der Mobilität und Sozialstruktur war unter Leitung von Jacques Dupaquier in Frankreich [33] schon seit 1980 im Gange. Die Monographie mit den Ergebnissen wird sogar mit einem anspruchsvollen programmatischen Kapitel "Pour une nouvelle histoire sociale" eingeleitet. Es scheint der Zeitpunkt für eine Diskussion gekommen zu sein, inwieweit die Quellengrundlage vorhanden ist, diesen Forschungsansatz zu vertiefen und auf andere Länder und Sachverhalte vergleichend auszudehnen. Dupaquier [34] hat seine Untersuchung in Frankreich auf 3000 Familien gestützt, deren Familiennamen mit TRA- beginnt. Es wurden dazu für den Zeitraum 1803-1902 in allen französischen Gemeinden die Zivilstandsregister von 350 Helfern durchgesehen. Für den Zeitraum 1803-1832 wurde dann die Stichprobe gezogen, der Quoten nach den Einwohnerzahlen der Departements nach der Volkszählung im Jahre 1806 zugrunde lagen. Die eigentliche Datengrundlage waren dann die verwandtschaftlichen Zusammenhänge der folgenden drei Generationen, in der Terminologie der Genealogie also die Stammlisten der betreffenden Familien.

    Bisher sind viele Erhebungen in der Geschichtsforschung Totalerhebungen, und man registriert methodenkritisch, wie viele Zehntausende Personen oft mit Akribie erhoben worden sind, wo ein Bruchteil davon zum selben Ergebnis geführt hätte, aber in der gewonnenen Zeit stattdessen noch andere Quellen oder Orte hätten einbezogen werden können, womit eine breitere Grundlage für Verallgemeinerungen geschaffen worden wäre. Um die Berufsstruktur Englands von 1810 zur erforschen, hat z.B. die Cambridge Group for the History of Population and Social Structure für ein laufendes Forschungsprojekt [35] von den rund 10 000 englischen Kirchgemeinden eine zufällige Auswahl von 300 Gemeinden gelost, von denen dann jede total ausgezählt wird. Warum eigentlich nicht weniger Personen aus dann vielleicht mehr Gemeinden, könnte man fragen. Denn mit repräsentativen Stichproben von nicht mehr als 2200 Familien oder Einzelpersonen (je nach Fragestellung) läßt sich jeder Sachverhalt ausreichend erforschen, unabhängig davon, ob die dahinterstehende Grundgesamtheit Zehntausende oder zig Millionen Personen oder Familien umfaßt. Durch eine Steigerung der Stichprobengröße über die 2200 hinaus läßt sich theoretisch keine größere Genauigkeit erreichen, sondern nur durch eine strengere Erfüllung der Kriterien für Repräsentativität, sofern an deren Erfüllung in einer konkreten Untersuchung Zweifel bestehen können. Bei Zeitreihen, vor allem bei jahrhundertelangen linearen Trends, die sich sehr gut statistisch glätten lassen [36] , wie dem Anwachsen des Landhandwerkeranteils, hat sich aber zeigen lassen, daß nicht jeder Zeitpunkt mit 2200 Probanden abgesichert werden muß, sondern sogar viel geringere Stichprobenzahlen ausreichen, um stabile Entwicklungen abzubilden [37] . In dem konkreten Falle der englischen Berufsstruktur ermöglicht aber die weit größere Personenzahl auch die Erfassung von seltenen Berufen. Überhaupt wird man, wenn man nach mehreren oder vielen Gesichtspunkten klassifizieren und analysieren will (und dabei nicht auch zur geschichteten Auswahl übergeht), diese Zahl von 2200 Probanden pro Generation überschreiten müssen.

    Wenn Imhof (vgl. Fußnote 27) der Auffassung ist, mit rund 135 000 Personen aus 6 Regionen und 53 Gemeinden die Lebenserwartung in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert erfaßt zu haben, so werden künftige repräsentative Stichproben vermutlich mit niedrigeren Personenzahlen auskommen können, dafür aber zufällig aus einer viel größeren Zahl von Orten aller Größenklassen stammend. Aus verständlichen Gründen sind OFB [38] zuerst einmal von kleinen und überschaubaren Gemeinden bearbeitet worden, die von der Dynamik der sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen weit weniger erfaßt worden sind als die Ballungsgebiete. Es gab 1939 sogar eine interne Anweisung [39] , für jeden Kreis rasch wenigstens ein Dorfsippenbuch von einer kleinen Gemeinde zu drucken, damit es dann als methodisches Beispiel dienen konnte. Schon aus diesem Grunde sind bisher Ergebnisse zur deutschen Bevölkerungsgeschichte, die sich erst einmal auf diese damals gefertigten Bücher bezogen haben, kaum repräsentativ.

     Für die Tragfähigkeit der Forschungen aus familiengeschichtlichen Massenquellen ist nicht nur der Umfang, etwa von AL, wichtig, sondern auch die Aussagekraft der Primärquellen, aus deren Angaben die Listen zusammengestellt worden sind. Da es Hinweise gibt, daß die Aussagekraft der Kirchenbücher [40] nicht überall so gut ist wie in Mitteldeutschland, haben wir von der Deutschen Zentralstelle für Genealogie aus die  Kirchenbuchführung von 1550 bis 1850 im gesamten deutschen Sprachraum systematisch untersucht [41] . Denn wenn in einem Gebiet vor 1700 in den Kirchenbüchern gar keine Berufsangaben zu finden sind, dann stößt vergleichende Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu einem Gebiet, wo es solche Angaben gibt, auf besondere Probleme und Grenzen. Vor 1650 sind viele Kirchenbücher nur lakonisch, und es erhöhen sich so auch die Fehlerquellen für die eigentliche Abstammung der Personen voneinander. Das hat zur Folge, daß Zahlen für 1550 auf noch weniger sicherer Grundlage beruhen wie solche für 1750 oder 1850.

      Die Genealogen helfen sich auch über Mängel der Kirchenbücher oft dadurch hinweg, daß sie einzelne Orte besonders gründlich aufarbeiten und andere verfügbare Quellengruppen, insbesondere Kaufbücher und Steuerlisten, mit einbeziehen, in einzelnen Fällen bis hin zu einer Totalauswertung aller möglichen und vorhandenen Quellen. OFB (insbesondere der zweiten Generation, vgl. vorn) sind neben AL von solcher Qualität die zweite familiengeschichtliche Massenquelle, auf die wir uns bei Stichproben stützen können und sollten. Da OFB in der Regel ungenügende Auskunft über zu- und abwandernde Personen geben, AL aber auch gerade diesen nachgehen, ergänzen sich beide Quellen. Stichproben können sehr wohl teils aus OFB, teils als AL gezogen werden. Weitere geeignete Quellengruppen sind Stammlisten bzw. allgemein Nachfahrenlisten, vor allem dann, wenn sie von irgendeiner Durchschnittsperson ausgehen oder alle Träger irgendeines Familiennamens erfassen. (Also die Forschungsmethode, die Dupaquier in Frankreich mit Erfolg angewendet hat.) Wie schon vorn geschrieben, gibt es leider derartige Materialien in Deutschland, im Unterschied etwa zu den Niederlanden, seltener als AL, und die Arbeit an ihnen ist methodisch schwieriger.

    Wenn auch keine Quelle und Methode problem- und fehlerlos ist, so ist es vielleicht doch gelungen, bis zu dieser Stelle den Eindruck zu verstärken, daß genügend Datenmaterial vorhanden ist, um Forschungen anzugehen, die von der Dynamik der Einzelpersonen und Einzelfamilien ausgehend, zu einer Art Statistischen Thermodynamik der sozialen Strukturen führen. Wobei wir hier das bekannte Definitionsproblem dieser Strukturen und ihre stete Veränderlichkeit in Raum und Zeit [42] erst einmal ausgeklammert haben, was aber noch erschwerend hinzutritt. Denn auch die Stichprobenmethodik beschert uns noch eine weitere Nuß zum Knacken: Stichproben müssen nach sozialen Parametern, Geschlechterverteilung, Stadt und Land und manchem mehr repräsentativ sein, wenn die Ergebnisse etwas taugen sollen. Von dem verlockenden Gedanken, daß die familiengeschichtlichen Massenquellen bereits repräsentativ an sich sind, müssen wir uns verabschieden. Aus mehreren Gründen ist die Oberschicht in diesen Quellen überrepräsentiert: Unterschiedliche Kinderzahlen pro Sozialschicht [43] , selektive Wanderung und Selektivität der Quellen selbst führen zu Verzerrungen der verschiedenen Anteile der sozialen Schichten gegenüber den wahren; das gilt sowohl für AL wie auch für Stammlisten. Bei den Untersuchungen in Frankreich und Sachsen ist daraus die Konsequenz gezogen worden, für die einzelnen Parameter der Stichproben Quoten festzulegen. Jede in den Massenquellen auftretende Person wird dann so lange in die Stichprobe einbezogen, bis die jeweilige Quote gefüllt ist. In dem Fall Sachsen hatten wir durch die Vorarbeit von Blaschke [44] die glänzende Möglichkeit, sowohl die Einwohnerzahl der Verwaltungseinheiten, als die Relation Stadt zu Land wie auch die prozentualen Anteile der Stände zu kennen. Darauf aufbauend ließen sich leicht Quoten errechnen, die nach 1815 durch eine Kombination von Stichproben aus AL, OFB und Stammlisten gefüllt wurden, vor 1815 nur aus AL. Aber wie soll man das in Württemberg machen, wo es eine solche Vorarbeit wie die von Blaschke noch nicht gibt? In diesen Fällen wird der Forscher gezwungen sein, sich die Kriterien selbst zu erarbeiten. Vernünftige Schätzungen, etwa des Bevölkerungsanteils der Städte oder bestimmter Stände, sollten, z.B. durch Stichproben in den Kirchenbüchern oder Steuerlisten des Untersuchungsgebietes, überall möglich sein. Dann baut man darauf auf. In vielen Fällen wird es möglich sein, irgendwelche Erhebungen (z.B. die ersten Volkszählungen) zu finden, um davon ausgehend zu interpolieren und so Eckziffern für die Quoten der Stichproben festzumachen, so wie es Dupaquier in Frankreich getan hat.

    Es sei auch darauf hingewiesen, daß man für bestimmte Aussagen auf diese Art Repräsentativität auch verzichten kann: Untersucht man z.B. Soziale Mobilität der Handwerksberufe in den Städten eines Landes, dann ist es für das Ergebnis eines jeden einzelnen Berufes unwichtig, wie groß die  Stichprobe ist, wenn auf die Größenordnung der Städte geachtet wird. Die Mobilität wird dadurch für jeden einzelnen Beruf nicht verändert. Aber wenn man für die Stadtbevölkerung insgesamt eine Aussage machen und mit einem anderen Land vergleichen will, dann muß man schon die Anteile der einzelnen Handwerksberufe entsprechend ihrer prozentualen Häufigkeit wichten bzw. hochrechnen. Will man aussagekräftige Zahlen für seltene Berufe oder Sozialgruppen, dann kann man ihren Stichprobenanteil überhöhen, um ihn dann in der Gesamtrechnung wieder auszugleichen. Man zieht dann praktisch geschichtete Stichproben.

     Es ist die Leitidee der "neuen Sozialgeschichte", daß makroskopische Abläufe aus der Summe von Millionen Einzelleben erschlossen werden können. Analysiert man die Einzelleben, dann läßt sich mehr über Ursachen und Folgen aussagen, als durch bloßes Mutmaßen. Die wirtschaftliche Methode, das forschungsorganisatorisch zu bewältigen, ist das Erheben von Stichproben mit Quotenziehung, und als besonders geradlinig hat es sich erwiesen, dazu familiengeschichtliche Massenquellen heranzuziehen. Daß sich durch die Verwendung von Stichproben auch für die Archivierung selbst neue Gesichtspunkte ergeben, ist nur folgerichtig. Z.B. wird bei Massenschriftgut eine Quotenauswahl zwischen 10 und 30% vorgeschlagen [45] . "Dabei empfiehlt es sich bei personenbezogenem Schriftgut (z.B. im Sozialbereich), geeignete Buchstaben des Namensalphabets zugrunde zu legen. ... Der einmal gewählte Buchstabe soll dann bei allen Kassationsvorhaben verwendet werden, um Einzelfälle gegebenenfalls auch in andere Bereiche weiterverfolgen zu können." Hätte es derartige Kassationsrichtlinien bereits in früheren Jahrhunderten gegeben, so könnte der Historiker, der mit Stichproben arbeiten will, bei seinen Archivbesuchen wahre Freudensprünge vollführen. 

     Die erste soziologische Untersuchung zur Mobilität, die sich auf Interviews bei einer repräsentativen Stichprobe von 9296 Erwachsenen in England stützte, ist 1949 von David Glass [46] in England begonnen worden. So gesehen liegen die historischen Untersuchungen für Frankreich und Sachsen, die etwa 30 Jahre später geplant und begonnen worden sind, durchaus in dem für wissenschaftliche Entwicklungen üblichen zeitlichen Rahmen, in dem tragfähige Ansätze auf neue Fragestellungen übertragen werden. Und warum sollte nicht das Bereitstellen [47] und Vervollkommnen von Stichproben für historische Zeiträume ein eigener Zweig der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte werden? Stichproben, in denen die Totalität der verfügbaren Quellen kombiniert ist und mit denen Forscher der verschiedenen Teildisziplinen zu unterschiedlichen Zeiten ihre Fragen beantworten?

 

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Weiss, V.: Zur Stellung der Genealogie in der wissenschaftlichen Forschung. Herold-Studien 6 (2003) 91-100

Soziale Unterschiede und Kinderzahlen

[27] A. E. Imhof, Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert, Weinheim 1990.

[28] F. Böltken, Auswahlverfahren: Eine Einführung für Sozialwissenschaftler, Stuttgart 1976.

[29] E. A. Wrigley u.  R. S. Schofield, The Population History of England 1541-1871, London 1981.

[30] Auch hierfür ist an der Deutschen Zentralstelle für Genealogie der Aufbau einer Datei, die alle Kirchenbuchverkartungen nachweist, die noch verstreut in den Orten stehen, weit gediehen. Diese Arbeiten werden von der DFG mit dem Projekt We 1176/3-1 gefördert.

[31] H. Metzke, Untersuchungen zur sozialen Mobilität im 16.-18. Jahrhundert anhand von Vorfahrenlisten, Genealogie in der DDR 2 (1990) S. 102-112.

[32] News from the Cambridge Group for the History of Population and Social Structure. Local Population Studies No. 55 (1995) S. 6.

[33] J. Dupaquier u. D. Kessler, La societe francaise au XIXe siecle, Paris 1992.

[34] Dupaquier u. Kessler, S. 23ff.

[35] News from the Cambridge Group for the History of Population and Social Structure. Local Population Studies No. 45 (1990) S. 14-23.

[36] K. Weichselberger, Über die Theorie der gleitenden Durchschnitte und verschiedene Anwendungen dieser Theorie, Metrika 8 (1964) S. 185-230.

[37] Weiss, Bevölkerung, S. 104.

[38] Wir haben in Leipzig die erreichbaren Ortsfamilienbücher nach ihrer Verwendbarkeit für wissenschaftliche Analysen und ihrer sozialgeschichtlichen Aussagekraft für bestimmte Zeiträume klassifiziert und dafür eine Datenbank aufgebaut, die auch Informationen zu den Orten selbst enthält, wie z.B. die Einwohnerzahl und die Erwerbsstruktur. - K. Münchow und V.Weiss, Ortsfamilienbücher als Quelle der Forschung, Genealogisches Jahrbuch

33/34(1994/95) 157-168.

[39] Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, Archivbestand 160N (Forschungsstelle für niedersächsische Bauerngeschlechter), Rundschreiben Nr. 1/39 der Landesbauernschaft Niedersachsen vom 11.2.1939: "Es muß in diesem Jahre gelingen, für jeden Kreis ein Familienbuch und Dorfsippenbuch zu schaffen, damit der Kreissachbearbeiter für Sippenforschung aus seinem Gebiet geeignetes Schulungsmaterial zur Verfügung hat. Es ist daher ein kleines Kirchspiel vordringlich zu bearbeiten."

[40] Vgl. P. Becker, Leben, Lieben, Sterben. Die Analyse von Kirchenbüchern. St. Katharina 1989.

[41] D. Wagner und V. Weiss, Die Kirchenbuchführung in Sachsen und Thüringen - Ein Vergleich erster Forschungsergebnisse, Familien und Geschichte 3. Jg. (1994) 347-356.

D. Wagner und V. Weiss, Die Entwicklung der Kirchenbuchführung im deutschen Sprachraum - ein Forschungsbericht, Genealogie 43. Jg. (1994) 152-161.

[42] Eine sehr gute, kurze Darstellung dieser Problematik findet man bei: Waites, B., Drake, M. und R. Finnegan, Social Mobility, in: Golby, J. (ed.), Communities and Families, Cambridge 1994, S. 89-113 (= Studying Family and Community History, Vol. 3).

[43] Weiss, Bevölkerung, S. 87ff..

[44] K. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution, Weimar 1967.

[45] H. E. Specker, Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft Kommunalarchive im Städtetag Baden-Württemberg zur Bewertung von Massenschriftgut in Kommunalverwaltungen, Der Archivar 43 (1990) S. 375-387.

[46] D. Glass (ed.), Social Mobility in Britain, London 1954.

[47] 1996 ziehen wir in der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig aus den OFB eine erste Stichprobe, die für eine Generation der Landbevölkerung im 18. Jahrhundert repräsentativ sein soll. Aus pragmatischen Gründen der Quellendichte ist als Untersuchungsraum das westelbische Gebiet des heutigen Deutschland definiert. Das Material soll als Kopieband (später als Datenbank) Dritten zu beliebigen Auswertungen zur Verfügung stehen. Schritt für Schritt sollen dann weitere Generationen folgen. Wir sind offen für Kooperation jeder Art.

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