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Die Hochbegabtenuntersuchungen

Galton hat 1869 als erster die Häufigkeiten eines bestimmten Begabungsgrades unter den Verwandten von Hochbegabten und berühmten Persönlichkeiten ermittelt (siehe die Tabelle dazu). Einige Kritiker meinten, Galton hätte bei der Auswahl seiner Hochbegabten keine gute Quellengrundlage zur Verfügung gehabt und versuchten es besser zu machen. So ermittelte Juda (1953) über die Befragung von 200 Gutachtern die Namen von 113 hervorrragenden Künstlern und 181 hervorragenden Wissenschaftlern des deutschsprachigen Raumes, die nach 1650 geboren waren. Unter den näheren Verwandten der Künstler fanden sich wieder besonders viele Künstler, meist gleicher Kunstgattung, vornehmlich bei den Musikern, aber auch bei den bildenden Künstlern. 74% der Wissenschaftler entstammten ihrer sozialen Herkunft nach der sozialen Oberschicht, nur 3,3% der Väter waren Handarbeiter und 4,5% „Sonstige“ (d.h. Arbeiter, Landarbeiter).

Rüdin (1951) hatte sich mit der Lebensbewährung, den Gesundheitsverhältnissen und der sozialen Herkunft von 412 Einser-Abiturienten befaßt, die von einer Stiftung des Bayerischen Staates, die noch heute besteht, besonders gefördert werden. Von den Vätern dieser Abiturienten mit Spitzenleistungen gehörten 50% der sozialen Oberschicht an, ungelernte Arbeiter waren nur 0,5%. Ebenso wie Juda kann Rüdin die Häufung hervorragender Leistungen unter den Verwandten, die Galton als erster belegt hatte, bestätigen, desgleichen die Abnahme dieser Häufigkeiten mit der Abnahme des Verwandtschaftsgrades.

Auch die Stammbäume bestimmter berühmter Familien werden immer wieder als Beleg für die Vererbung der Begabungen angeführt. Die Mathematikerfamilie Bernoulli, die Musikerfamilie Bach, die Familie Darwin (zu der auch Galton gehörte), die Erfinderfamilie Siemens und die Politikerfamilie Kennedy sind die bekanntesten Beispiele. In enger Verwandtschaft finden wir hier jeweils mehrere hervorragende Persönlichkeiten, deren Leistungen in mehreren Vertretern einen Gipfel von geschichtlicher Bedeutung erreichen. Ähnliche Beispiele lassen sich unter Malern, ja auch unter Leistungssportlern und Artisten und auf anderen Leistungsfeldern finden.

Die Familie Bernoulli hat in vier Generationen 8 Mathematiker von überragender Bedeutung hervorgebracht, die 103 Jahre lang ununterbrochen den Lehrstuhl für Mathematik der Universität Basel innehatten. Bemerkenswerterweise ist aber kein Bernoulli gleich Mathematiker gewesen, und neben der Mathematik waren die acht noch Professoren für Physik, Chemie, Jura, Astronomie, Logik, Architektur und Ingenieurwesen - ein hervorragendes Beispiel für die Begabungsrichtung, die Weiss (1972) als „mathematisch-technisch“ bezeichnet hat und für die eine sehr hohe Allgemeine Intelligenz, d.h. ein IQ über 125, die allererste Grundvoraussetzung ist. Ein weiterer Bernoulli. Professor Carl Christoph Bernoulli (ein Enkel des letzten großen Mathematikers Bernoulli), war ein Technologe und Nationalökonom von großem Format. Die Ehefrauen der ersten Bernoulli entstammten aus Basler Geschlechtern, aus denen ebenfalls namhafte Gelehrte hervorgegangen sind.

Die Nachkommen des Rechenmeisters Adam Ries (der von 1492 bis 1559 lebte), die der Adam-Ries-Bund im sächsischen Erzgebirge erfaßt und in einem Buch (Gehler und Lorenz 1997) zusammengestellt hat, üben heute alle erdenklichen Berufe aus und nur wenige glänzen noch durch eigene mathematische Begabung und hohe Intelligenz. Aber es gibt unter den Nachkommen auch Linien (z.B. die Verlegerfamilie Teubner), in denen über zehn, ja zwölf Generationen niemals die Kontinuität der Hochbegabung verlorenging, d.h. in denen die Ehepartner immer wieder aus einem vergleichbaren sozialen Milieu stammten. Jedoch gilt für die Gesamtheit der Vorfahren, Nachfahren und Seitenverwandten berühmter Personen, daß sie pro Generation und pro Abnahme des Blutverwandtschaftsgrades zu der hervorragenden Persönlichkeit der Gesamtbevölkerung immer ähnlicher werden, aus der sie stammen. Wie sollte es auch anders sein.

In „POGGENDORFF Biographisch-Literarisches Handwörterbuch der exakten Natruwissenschaft“, Band VII a - Supplement, hat der Bearbeiter Zaunick (1969) 800 markante deutsche Vertreter der exakten Naturwissenschaft, Medizin und Technik erfaßt. Bei 65 Gelehrten und Erfindern sind unter einer Zusatzrubrik „Genealogie“ Hinweise auf oft sehr umfangreiche Arbeiten über die Verwandten dieser bedeutenden Erfinder und Wissenschaftler zu finden. So finden wir unter den Verwandten des Mathematikers Leonhard Euler auch die Namen der mehrfachen Nobelpreisträger Euler  aus Schweden; unter Justus von Liebigs Nachkommen lesen wir überrascht den Namen des Nobelpreisträgers Max Delbrück. Zusammen betrachtet sind das alles eindrucksvolle Belege für den Befund, daß die nächsten Verwandten von hochleistungsfähigen Persönlichkeiten, wenn nicht selbst auch hochleistungsfähig, so doch meist weit überdurchschnittlich sind.

Neben den schon genannten Arbeiten, in denen nach Galtons Vorbild die gesamte Verwandtschaft untersucht worden ist, gibt es auch Untersuchungen, die sich auf die soziale Charakterisierung der unmittelbaren Herkunft hervorragender Persönlichkeiten beschränken. Als erste Arbeit ist die von Maas (1916) „Über die Herkunftsbedingungen der geistigen Führer“ zu nennen. Als Material dienten im 4421 berühmte Persönlichkeiten aus der „Allgemeinen Deutschen Biographie“, die in den Jahren 1700 - 1860 geboren sind und deren soziale Herkunft nach den damals gültigen Maßstäben statistisch analysiert worden ist (siehe die folgende Tabelle).

 

Soziale Herkunft von 4421 berühmten deutschen Persönlichkeiten (in %)

 

                                                                                            geboren bis jeweils

                                                                        1789                         1818                           1860

 

Adel                                                                 19,2                           14,2                            11,0

 

Intellektuelle und künstlerische Sphäre          53,3                           55,8                             60,0

 

Bourgeoisie und Mittelstand                           15,6                            16,4                             16,4

 

Handwerker, Bauern und Proletariat              11,9                            13,6                             12,6

 

                                                                      100                           100                           100

 

Quelle: Maas (1916)

 

 

 Von den 4421 untersuchten Persönlichkeiten“, so schreibt Maas, „stammen nur 635 aus den niederen Volksklassen, ungefähr ein Sechstel.“ Bei künstlerischen Berufen ist mit 22% der Prozentsatz etwas größer als bei naturwissenschaftlich-technischen Berufen. Maas, wie übrigens auch Galton schon, sieht die Ursache dafür nicht nur in der Vererbung der Begabung: „Häufig wird der Sohn frühzeitig in das Berufsmilieu des Vaters hineingezogen, was sein Interesse weckt, oder im häuslichen Kreis früh zu Tätigkeiten  angehalten, die technische Schwierigkeiten seines Berufes leichter überwältigen lassen, was ihm dem Eindringling von außen gegenüber, den jene Schwierigkeiten abhalten, einen großen Vorteil verschafft. Bei Musikern und Malern spielen diese Umstände neben der Vererbung des musikalischen und malerischen Sinnes eine ziemliche Rolle. So stammen 38% der berühmten Musiker von Berufsmusikern, ... 24% der Maler stammen von Berufsmalern. ... Das Milieu wirkt in den meisten Fällen in die Richtung der Vererbung und unterstreicht ihre Wirkung. Den Kindern begabter Menschen steht gewöhnlich ein besonders günstiges Milieu zur Verfügung, das Milieu ihrer Familie, ihrer Eltern.“

Als Mitarbeiter des Patentamtes der USA untersuchte Rossmann (1930) die soziale Herkunft von 710 amerikanischen Erfindern, von denen jeder im Mittel je 39 Patente erhalten hatte. Von den Vätern der Erfinder waren ein Drittel (33,3%) „Professionals“ (d.h. Ingenieure, Juristen, Lehrer, Wissenschaftler, Ärzte), ein weiteres Drittel (35,5%) war „im Handel“ tätig ; Facharbeiter (und Handwerker) waren 16,2%, in der Landwirtschaft waren 15,0%.

Visher (1948) hatte sich mit der sozialen Herkunft führender amerikanischer Wissenschaftler befaßt. Aus dem „Directory of American Men of Science“, einem biographischen Lexikon (ähnlich dem POGGENDORFF), wurden nach möglichst objektiven Maßstäben aus den Vertretern der verschiedenen Wissensgebiete 849 besonders bedeutende Männer herausgesucht. Deren Väter waren zu 45,5% „Professionals“, im Handel waren 23% tätig, in der Landwirtschaft 22%; Facharbeiter waren 8%, ungelernte Arbeiter 1%. - Wenn wir die Ergebnisse von Rossmann, Visher, Maas, Juda, Rüdin miteinander vergleichen - und es ließen sich noch mehr solche Untersuchungen anführen, auch aus Frankreich, Italien und anderen Ländern, so fällt einem, obwohl die Uhren der sozialökonomischen Entwicklung in jedem Land etwas anders gehen, eine gewisse Ähnlichkeit auf: ein Drittel bis die Hälfte aller Personen mit herausragenden Leistungen haben Väter mit einem Beruf, den wir heute als „Intelligenzberuf“ bezeichnen, dagegen ist der Prozentsatz der Väter, die ungelernte Arbeiter sind, sehr gering. Und ähnliche Ergebnisse liegen auch für die führenden Vertreter des industriellen Managements und des Bankwesens vor.

Bei den bisher angeführten Arbeiten war die hervorragende Lebensleistung das Auswahlkriterium der Hochleistungsfähigen gewesen. Die Möglichkeit, eine derartige Leistung zu vollbringen, hängt aber nicht nur von einer Reihe wichtiger sozialer Faktoren ab, sondern auch von Zufälligkeiten. So kann ein an und für sich Hochbegabter durch einen schweren Unfall oder eine organische Erkrankung daran gehindert werden, große Leistungen zu vollbringen. Diese und viele andere, mehr schulpraktische Gründe, ließen die Psychologen um 1900 nach objektiven Verfahren suchen, den Intelligenz- und Begabungsgrad zu messen, was einer der Anlässe zur Entwicklung von Intelligenztests war.

Nach jahrelangen Vorbereitungen und Voruntersuchungen, bei denen der von Binet entwickelte Intelligenztest zum Stanford-Binet weiterentwickelt wurde, testeten Terman und sein Mitarbeiterstab 1922 in der Hauptuntersuchung in Kalifornien 6 - 8% von 168 000 Schülern der Klassen 1 - 8. Es waren die jeweils 1 - 5 besten Schüler aller Klassen in öffentlichen Schulen. Die Schüler waren von den Lehrern benannt worden, so daß die Terman-Studie also von einer Kombination von Lehrerurteil und Testergebnis ausgeht. Die Hauptgruppe der 643 leistungsstärksten Schüler, die auf diese Weise ausgelesen wurde, erreichte in der Kurzform des Stanford-Binet, die aus nichtverbalen Tests besteht, einen IQ von durchschnittlich 150 und alle hatten einen IQ von 140 oder höher. Jedem der leistungsstärksten Kinder wurden dann an verschiedenen Tagen zwei weitere Intelligenztests und ein standardisierter Schulleistungstest vorgelegt, ferner ein 50-min-Test über Interesse an Spielen und Freizeitbeschäftigungen. Eltern und Lehrer hatten umfangreiche Fragebogen auszufüllen.

Die begabten Schüler waren in der Regel in der Schule eine Klasse höher eingestuft, als das ihrem Alter entsprach, d.h. sie hatten meist eine Klasse übersprungen. Bei der ärztlichen Untersuchung war ihr gesundheitlicher Zustand gut und sehr gut; sie waren durchschnittlich größer und schwerer als ihre Mitschüler. Hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft zeigte sich die schon bekannte Verteilung: 31,4% der Väter waren „Professionals“ (wir würden heute sagen: Angehörige der Intelligenz), 31,2% leitende Angestellte in Wirtschaft und Verwaltung, 18,8% sonstige Angestellte; 11,8% Facharbeiter; 6,6% Angelernte und Ungelernte, d.h. letztere zum Teil Kinder von Einwanderern der ersten Generation in oft sehr bescheidenen sozialen Verhältnissen.

Terman stufte die Väter, da er diese selbst nicht testen konnte, nach dem Grad der Schwierigkeiten ihrer Berufe, d.h. nach den Intelligenzanforderungen ihrer Berufe, ein und verwendete dazu die Skala von Barr, die auf dem gemittelten Urteil von 20 Sachverständigen beruht (vgl. die folgende Tab.).

 

Intelligenzanforderungen der väterlichen Berufe von 643 hochbegabten Kindern

                                          in Kalifornien 1922 (in %)

 

 Punktwert                                          Väter der                                            Väter der

der Barr-Skala                                    Hochbegabten                                  Grundgesamtheit

 

15 und mehr                                             26,8                                                    2,2

12-15                                                        26,8                                                     4,5

 

 9-12                                                          36,1                                                    37,0

 

 6- 9                                                            8,9                                                     13,4

 3- 6                                                            1,3                                                      42,9

 

                                                                100                                                       100

 

Mittelwert                                                    12,8                                                     7,9

 

Quelle: nach Terman 1925

 

 

 

Berufliche Qualifikation von hochbegabten Männern im Alter von 35 Jahren

 im Vergleich zu allen männlichen Beschäftigten Kaliforniens um 1942 (in %)

 

Berufliche Qualifikation                        Hochbegabte                      Männliche Beschäftigte

                                                                                                             Kaliforniens

                                                                    (n = 724)                           (n = 1 878 595)

 

Akademiker                                                    45,4                                      5,7

Leitende Berufe und Stellungen                     25,7                                      8,1

 

Angestellte, Facharbeiter                                20,7                                    24,3

 

Angelernte, Ungelernte und in der                    8,1                                    61,8

Landwirtschaft Tätige

 

                                                                 100                                       100

 

Quelle: nach Terman und Oden 1948

 

 

Diese Terman-Studie ist aber vor allem dadurch bemerkenswert, daß die Hochbegabten dieser Untersuchung jahrzehntelang (Terman und Oden 1948, Oden 1968) bis in die unmittelbare Gegenwart, weiter verfolgt, befragt und getestet wurden, ebenso ihre Ehepartner und Kinder. 1960 waren 94% der männlichen Hochbegabten dieser Studie verheiratet und 91% der weiblichen. Der mittlere IQ ihrer Kinder betrug 133, bei 34% war er wieder höher als 139. O,5% der Kinder waren geistig retardiert, d.h. krank. Die Hochbegabten und ihre Familien waren in hohem Grade sozial angepaßt, hatten ein weit überdurchschnittliches Einkommen erreicht und übten qualifizierte und hochqualifizierte Berufe aus. Mit einem Wort, sie gehörten zur Intellektuellen Elite.

Oden (1968), die innerhalb der Begabten noch einmal zwei Gruppen hinsichtlich ihres Lebenserfolges unterschied, konnte feststellen, daß diese Unterschiede vor allem darauf beruhten, daß der IQ der Ehefrauen bei den Erfolgreicheren höher war und demzufolge auch der IQ der Kinder. Waren von den Erfolgreichsten alle verheiratet und davon nur 16% geschieden, so waren von den weniger Erfolgreichen 42% geschieden, 18% aber unverheiratet geblieben, was unterstreicht, daß Persönlichkeit eben mehr ist als Intelligenz und soziale Leistung auch durch ganz andere Faktoren der psychischen Stabilität mitbestimmt wird als die bloße Intelligenz.

Als Hauptergebnis der Terman-Studie, an der niemand vorbeigehen kann, der sich mit Schulbegabung und Lebensbewährung befaßt, wird aber allgemein gesehen, daß bewiesen werden konnte, daß intellektuell Hochbegabte in der Regel hinsichtlich ihrer geistigen und körperlichen Gesundheit überdurchschnittlich sind und bleiben. War doch um 1900 das Vorurteil weit verbreitet gewesen, daß Hochbegabte geistig und körperlich anfällig und schwächlich seien, ja die Hochbegabung selbst so eine Art Krankheit sei, woraus der Schluß gezogen wurde, daß zu viel und zu eifriges Lesen, ein häufiges Anzeichen für Hochbegabung, körperlich und geistig schädlich sei. Mit diesem Vorurteil wurde mit der Terman-Studie aufgeräumt, zumindest in der Wissenschaft.

Detlef H. Rost: Klare Worte zur Hochbegabungs-Diskussion

FDP-Politiker MdB Daniel Bahr: In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder

Welt am Sonntag: Über die Vererbung von Intelligenz und die gesellschaftlichen Folgen


  • Intelligenz als Tabu

    Weiss, Volkmar: Major genes of general intelligence. Personality and individual Differences 13 (1992) 1115-1134
  • Weiss, Volkmar: The advent of a molecular genetics of general intelligence. Intelligence 20 (1995) 115-124 (Editorial)

  • High-IQ Societies

  • General intelligence by Chris Brand

  • Uncommonly Difficult IQ Tests

  • A collection of articles on Intelligence and IQ

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