Neu: Vorgeschichte und Folgen des arischen Ahnenpasses: Zur Geschichte der Genealogie im 20. Jahrhundert. Arnshaugk 2013, 374 Seiten

Die folgenden Texte sind in diesem Buch in überarbeiteter und aktualisierter Form enthalten auf den Seiten 12 bis 90.

 

Erschienen in: Genealogie 50. Jg. (2001) Teil I: Das sogenannte Blutbekenntnis, 417-436
  Teil II: Historische oder völkische Genealogie? 497-507
  Teil III: Die Machtergreifung der Viehzüchter 615-627

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Die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses

Teil I, Fortsetzung:

Das sogenannte Blutsbekenntnis

 

Volkmar W e i s s

Hier Teil Ib, Fortsetzung von Teil I:  

Als Fachliteratur empfiehlt der eben zitierte Verfasser [44] für die notwendige Familienforschung: Heydenreich, Eduard: Handbuch der praktischen Genealogie. Leipzig 1913, und die Bücher von Ernst Devrient (1861-1908) und das Taschenbuch von Friedrich Wecken (1875- vermißt 1946), alle entstanden im Umfeld der Leipziger Zentralstelle, deren Tätigkeit der Verfasser lobend hervorhebt, verbunden mit der Anregung, in die Zentralstelle (die Ende 1913 schon 1147 Mitglieder gezählt hatte) einzutreten und ihrem Archiv die aufgestellte  Ahnentafel zu übergeben.

Wer aber daraus schließt, daß sich die Zentralstelle bereits vor oder im 1. Weltkrieg zu einem Hort des Rassenantisemitismus gemausert habe, der irrt gründlich. In einem kritischen Rückblick [45] wird 1926 richtig festgestellt: „Die rein historische Genealogie hat bislang den Rassenbegriff kaum je in ihren Gesichtskreis gezogen - so enthält z.B. das Handbuch der praktischen Genealogie von Heydenreich aus dem Jahre 1913 keinen einzigen Hinweis auf rassische Verhältnisse.“ Keine einzigen Hinweis - und das scheint bei der geschilderten Verbreitung des Antisemitismus, inbesondere in akademischen Kreisen, auch mit einem Schwerpunkt in Leipzig, eine für die Geschichte der Zentralstelle bemerkenswerte Feststellung.

Im Rahmen einer solchen Abhandlung wird niemand eine Vollständigkeit der Argumente erwarten. Zusammenfassend läßt sich aber feststellen, daß es etwa ab 1900 im deutschen Sprachraum eine zunehmende Anzahl von Organisationen gegeben hat, die von ihren Mitgliedern das „Blutsbekenntnis“ verlangt haben, aus dem sich die Notwendigkeit der Nachprüfung und damit der Antrieb zur Familienforschung ergab. Juden schrieb man eine eigene „Rassenseele“ zu, die durch die christliche Taufe nicht verändert würde und die zu Verhaltensweisen führen würde, die mit dem deutschem Wesen unvereinbar seien. Auch die Vermischung von jüdischem und „arischem Blut“ wurde als gefährlich angesehen, weshalb man glaubte, Judenmischlingen und getauften Juden mit besonderem Eifer -  auch genealogischem - nachstellen zu müssen. Das führte zu dem Paradox, daß zu dem Zeitpunkt, als sich die Assimilation der Juden verstärkte - 1932 heirateten bereits 36% aller deutschen Juden Nicht-Juden - ihre Diskriminierung ebenfalls verstärkte.

An dieser Stelle auch die Entstehung des Begriffes der „arischen Rasse“, der vor allem ein politischer Begriff war - zur Unterscheidung von Farbigen und Juden auf der einen Seite und weißen Nicht-Juden auf der „arischen“ Seite - zu belegen, würde hier zu weit führen. Bei einer Kritik dieser Auffassungen sollte man sich aber im klaren darüber sein, daß Begriffe wie Blut und Rasse [46] in den letzten 100 Jahren in den europäischen Sprachen unter dem Einfluß der Genetik einen grundlegenden Wandel erfahren haben. Häufig wird der Fehler begangen, über die damaligen Äußerungen aus der Sicht unseres heutigen Begriffsverständnisses von oben herab zu urteilen.  Wo man vor 100 Jahren vom „Blute“ sprach, in dem man vor 1900 den Sitz der Vererbungssubstanz vermutete, würde man heute vielfach von „Genen“ sprechen. Die Verwendung des Begriffes „Rasse“ war in allen europäischen Sprachen sehr unscharf. Man konnte damit Art, Stamm, Volk, Population oder irgeindeine sich durch „Blutsverwandschaft“ nahestehende Gemeinschaft meinen (ja sogar „die menschliche Rasse“ im Ganzen im Konflikt mit Außerirdischen noch heute), aber auch „Rasse“ im eigentlichen engeren Sinne der Physischen Anthropologie. In einem lesenswerten kritischen Buch [47] heißt es z.B. 1925 über die „Dutch and British“ in Südafrika: „The relations between the two dominating races ... „. Wir würden heute an dieser Stelle alle von „Völkern“ oder, wem auch das nicht mehr gefällt, in gelehrter Sprache von „ethnischen Gemeinschaften“ bzw. „Ethnien“ sprechen. Um 1920 oder 1930 war eine wissenschaftlich geschärfte Sprache in diesen Fragen weder volkstümlich noch verbreitet. Einem Mann wie Hitler war, etwa in „Mein Kampf“, die Unschärfe der vorwissenschaftlichen Sprache nicht nur ziemlich gleichgültig, sondern bot sogar willkommenen Spielraum zu wechselnder Auslegung, denn es kam ihm auf die politische Wirkung seiner Worte an.

Eine wissenschaftliche Vererbungslehre begann praktisch erst mit dem Jahre 1900. In der Leipziger Zentralstelle war es vor allem der Vorsitzende Hans Breymann, der bestrebt war, Partner zu finden, um damit vielleicht Geldquellen zu erschließen, der es schon 1908 [48] beachtenswert fand, „daß in den letzten Jahren unter der gesteigerten naturwissenschaftlichen Erkenntnis schon auf Seiten der wissenschaftlichen Genealogen ... das Bestreben sich äußerte, an die gewonnenen geschichtlichen Forschungen biologische oder allgemeine medizinische Beobachtungen anzuknüpfen. ... Die Erörterung des Auftretens bösartiger Krankheiten oder besonderer Veranlagungen innerhalb eines Familienverhältnisses, die Beobachtung der Lebensenergie in der zu- oder abnehmenden Kinderzahl und in der Kindersterblichkeit, die Zurückverfolgung der Ahnen besonders hervorragender Persönlichkeiten und das Bestreben, aus den Koeffizienten des Genies die Komponenten seiner hauptsächlichsten Eigenschaften herauszufinden, gehören gleichfalls dieser neueren Betrachtungsweise an.“ Bereits auf dem ersten, 1906 von Prof. Dr. med. Dr. phil. Robert Sommer (1864-1937) in Gießen einberufende „Kurs über Familienforschung und Verererbungsforschung“, waren mehrere Genealogen - auch als Vortragende - vertreten, nachdem die Leipziger Zentralstelle ihren Mitgliedern den Besuch des Kurses in einem Rundschreiben empfohlen hatte. Auf dem 3. Kurs 1908 kam es zu einer einstimmigen Entschließung aller Teilnehmer des Kurses, „wonach zur planmäßigen Verbindung der naturwissenschaftlichen und genealogischen Arbeit, zur Sammlung familiengeschichtlicher Tatsachen die Leipziger ‘Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte’ als geeignet erklärt wird und der Beitritt zu dieser anheimgegeben wird.“ Die Sachkenntnis, mit der damals von führenden Mitgliedern der Zentralstelle die ersten Arbeiten der Humangenetik rezensiert und kommentiert worden sind, z.B. von Ernst Devrient, ist wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswert. Die Bedeutung des Hardy-Weinberg-Gesetzes der Populationsgenetik wurde von den Genealogen [49] eher erkannt als von den eigentlichen Fachwissenschaftlern. Dr. Wilhelm Weinberg (1862-1937) [50] wird Mitglied der Zentralstelle und sogar am 26.4.1921 in den Hauptausschuß gewählt, wird aber dort nicht aktiv. - Einen gewissen Höhepunkt, aber auch Abschluß der Bemühungen, der Zentralstelle in dieser Richtung einen größeren Wirkungskreis zu verschaffen, ist am 22.1.1923 die Einladung an Breymann und Ernst Rüdin [51] (1874-1952) zu einer Besprechung [52] in Berlin mit den leitenden Beamten mehrerer Ministerien, bei der es um die „Errichtung einer Reichsanstalt für menschliche Vererbungslehre und Bevölkerungskunde“, also praktisch um die Vorbereitung der Gründung des späteren „Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie und Vererbungslehre“ geht. Auf dieser Beratung muß aber Breymann zur Kenntnis nehmen, daß der unmittelbare Beitrag der Genealogie als eher gering eingeschätzt wird. Tatsächlich hatte in Fachkreisen in dieser Zeit eine gewisse Ernüchterung eingesetzt, nachdem man festgestellt hatte, daß die Hoffnungen der Vererbungsforscher in den  ersten 20 Jahre nach 1900  häufig auf zu einfachen Annahmen oder Begriffen gegründet waren. 1935 muß Hohlfeld feststellen [53] : „Die größte Enttäuschung, die vielen Erwartungen zum Trotz die Ahnenforschung bereitet, ist der geringe Beitrag, den (die Genealogie) zur Vererbungsforschung beisteuern kann ... . Wenn wir Hunderte oder Tausende von Ahnentafeln durchsehen, werden wir doch nur wenige Fälle aufdecken können, aus denen der Vererbungsforscher naturwissenschaftlich verwertbares Material entnehmen kann. ... Zumeist enthalten die gedruckten Ahnentafeln über Todesursachen oder vererbliche Krankheiten nichts oder nur zusammenhanglose Einzelnotizen. Der Grund liegt ... fast immer darin, daß die Quellen darüber schweigen. ... Das biologische Tatsachenmaterial beschränkt sich im Wesentlichen auf die Daten der Geburt, der Hochzeit und des Todes.“

Dennoch könnte man die Auffassung vertreten, daß Breymann [54] und die Zentralstelle mit ihrer Offenheit gegenüber der entstehenden Genetik mit zu den frühen geistigen Wegbereitern der Nürnberger Gesetze vom Jahre 1935 gezählt werden können [55] . In der ersten Nummer nach Kriegsausbruch [56] werden in den von der Zentralstelle herausgegebenen „Familiengeschichtlichen Blätter“ die im Juni 1914 in Jena von der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene beschlossenen Leitsätze dieser Gesellschaft abgedruckt [57] , die mit dem Satz beginnen „Die Zukunft des deutschen Volkes ist aufs schwerste bedroht.“ Wenn man heute, drei Generationen später, im Jahre 2000, die 1914 geschriebenen Sätze zu den wahrscheinlichen Spätfolgen des damals gerade erst einsetzenden Geburtenrückgangs liest, könnte das Anlaß zur Nachdenklichkeit sein.  Zu bemerken wäre auch, daß es in Deutschland und z.B. auch in skandinavischen Ländern [58] auch Sozialdemokraten gab, die Gesellschaften für Rassehygiene [59] angehörten, die für sie damals nur eine verbreitete Bezeichnung für Sozialhygiene [60] war. „Unter Rasse wird die lebende Einheit des Volkskörpers im Laufe der Geschlechterfolgen verstanden“, so lautet wortwörtlich die Definition der Rassenhygieniker in der Entschließung von 1914. Welcher Genealoge wollte einer derartigen Definition von „Rasse“ widersprechen? Wie jedoch schon vorn zitiert, enthält das auf „Veranlassung der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte, Sitz Leipzig“ 1913 in 2. Auflage herausgegebene, bei H. A. Ludwig Degener verlegte, zweibändige „Handbuch der praktischen Genealogie“ (mit einer Einleitung von Prof. Dr. Karl Lamprecht, Leipzig) von Eduard Heydenreich [61] (1852-1915) keinen einzigen Hinweis auf rassische Verhältnisse enthält, auch nicht in den Beiträgen von Robert Sommer und dem seiner Zeit in Bezug auf Sozialgeschichte weit vorausschauenden Armin Tille [62] .

 

Die Sehnsucht nach der bäuerlichen Heimat

Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und die Jahre bis 1914 waren von einer bis dahin beispiellosen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik geprägt. Der bäuerliche Charakter vieler Siedlungen ging verloren, und der bäuerliche Anteil an der Bevölkerung und der Wertschöpfung ging sehr stark zurück. Das war (und ist) zweifellos mit Problemen und Gefahren für die gesamte Gesellschaft verbunden, so daß es zu Gegenbewegungen kam, die versuchten, die Abwanderung vom Land in die Stadt auch dadurch mit aufzuhalten oder zu bremsen, indem bäuerliche Traditionen bewußt gemacht und gepflegt wurden.

Es ist der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) der zu den ersten gehört, die auch für Bürger und Bauern die Anlegung von Familienchroniken fordern. Mit Blick auf die Dörfer ist ihm zwar der Gedanke eines Ortsfamilienbuches noch fremd, aber er fordert 1854 [63] bereits eine bis „auf einzelne Gemeinden heruntergehende Charakteristik“ von der „überall noch kaum eine Spur vorhanden ist“, d.h. „Aufzeichnungen über Stand, Beruf, Charakter, Sitten und Bräuche der Bewohner der Gemeinden“. Es war dann Heinrich Sohnrey (1859-1948), der von ihm gegründete „Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege“ und die von ihm herausgegebene „Zeitschrift für die sozialen und volkstümlichen Angelegenheiten auf dem Lande. Organ für die gesamte ländliche Wohlfahrtspflege. Das Land“, in der 1894 unter der Überschrift „Bäuerliche Familienchroniken“ [64] zu lesen ist: „Die moderne wirtschaftliche Entwicklung lockert mehr und mehr die Bande der Familien und Verwandtschaft, und, indem die Kinder schon früh dem Elternhause entfremdet, erzeugt sie ein gefährliches Gefühl der Heimatlosigkeit und Haltlosigkeit. Auch die ländliche Bevölkerung ist von diesem Zersetzungsprozeß nicht frei geblieben. ... Als ein Mittel zur Kräftigung des Familienzusammenhaltes hat nun erst neuerdings wieder ‘Das Centralblatt für die mährischen Landwirte’ in bäuerlichen Kreisen die Anfertigung von Familienchroniken empfohlen. Nicht nur, daß der Nachkomme selbst aus bescheidenen Aufzeichnungen seiner Voreltern manchen wichtigen Fingerzeig für sein eigenes Leben entnehmen kann, er lernt sich als letztes Glied einer großen Reihe von Vorfahren fühlen.“ Zu dieser Notiz wird später eine Leserzuschrift [65] veröffentlicht, in der es heißt: “Mir ist eine hannoversche Bauernfamilien bekannt, welche eine bis ins 14. Jahrhundert hinaufreichende geschriebene Familienchronik aufweist. ... Seit geraumer Zeit beschäftige ich mich mit der Ermittlung bäuerlicher Genealogien. ... Ich wäre Ihnen  sehr verbunden, wollten Sie an Ihre Leser die Bitte ergehen lassen, daß Ihnen Adressen alter Bauerngeschlechter mitgeteilt wird.“ 1899 bringt dann die Zeitschrift einen ersten methodischen Aufsatz [66] über bäuerlichen Erbbesitz, mit mehreren Beispielen aus Holstein. 1900 erscheint dann ein umfangreicher „Wegweiser“ [67] , in dem zu „Ortsgeschichte“ und dem „Dorfmuseum“ Anregungen und Vorschläge von einer Art und Güte enthalten sind, daß man zum erstenmal von einer methodischen Anleitung mit weitgesteckten Zielen sprechen kann. „Die Dorf- und Familienchronik möge einem Beispiele veranschaulicht werden, das wir dem Lehrer Asmus [68] in Zwilipp bei Kolberg in Pommern verdanken. Die von ihm angelegte Zwilipper Chronik besteht aus zwei Teilen: I. Dorf=, II. Familienchronik (des G. Geschlechts). ... Die wichtigsten Notizen für die Familienchronik sind den Kirchenbüchern der hiesigen Pfarre entnommen.“ Pfarrer Oberländer in Lindenau in Sachsen-Meinungen teilt dazu mit, daß er die Familiengeschichte des Ortes, „auf Grund der bis 1560 zurückgehenden Kirchenbücher zusammengestellt hat,“ und darüber Vorträge hält. Pfarrer G. Matthis in Eyweiler im Elsaß trägt in die Traubibeln, die er zu überreichen hat, „die Nachrichten über die Vorfahren ein“.

Daß die Geistlichen durch das Anlegen von Seelen- und Familienregistern für das Aufblühen der Genealogie im 19. Jahrhundert -  und vielfach schon früher -  einen großen und soliden Beitrag geleistet haben, haben wir an anderer Stelle [69] bereits in großer Ausführlichkeit behandelt. Um 1900 hatte die Entwicklung dann einen Stand erreicht, daß an mehreren Stellen unabhängig voneinander der Gedanke verwirklicht wurde, die gesamte Bevölkerung eines Dorfes, wie sie seit Beginn der Kirchenbücher nachweisbar ist, in einem gedruckten Buch zu verewigen. 1895 hatte der Lehrer O. C. Nerong das Kirchspiel Grundhof in Schleswig bearbeitet und dazu auch Quellen aus staatlichen Archiven mit verwendet. Seine Zusammenstellung beginnt mit Besitzerfolgen der Häuser und Höfe und geht für die letzten Generationen in ein Familienregister über. 1908 läßt der Bauer F. Schrienert die Familienchronik seines Heimatdorfes Ditfurt/Provinz Sachsen drucken, und Kaplan A. B. Máka bereits 1902 eine auch nach heutigen Maßstäben methodisch einwandfreie Arbeit. Die Sprache der Einwohner des böhmischen Dorfes Struzinec ist, ebenso wie die Familiennamen der Bevölkerung, teils deutsch, teils tschechisch, das Buch selbst, das er seinen „lieben Landsleuten“ gewidment hat,  in tschechischer Sprache verfaßt. Ursprünglich erfolgten die Eintragungen in die Matriken in dieser Gegend in deutscher Sprache. „Die Wiener Germanisierung des tschechischen Volkes hatte gesiegt. Doch schon im Jahre 1834 führte der Pfarrer Jan Doubravský die Matriken in Tschechisch. Seit dieser Zeit gibt es in den Matriken nur unser geliebtes Tschechisch.“ [70]

Das Familienforschung und -tradition dafür eingesetzt wird, das Nationalbewußtsein zu stärken, dürfte keine verwerfliche Besonderheit der deutschen Genealogie sein, und man braucht deswegen  nicht bis zum Alten Testament zurückzugreifen. Das bäuerliche Familienforschung denselben Zweck im selben historischen Zeitraum auch in Norwegen, Flandern, England und in Slowenien hatte und hat, würde sich sicher leicht belegen lassen, wenn es entsprechende Vorarbeiten gäbe bzw. sie dem Verfasser bekannt wären.

Weiterreichende Zielstellungen hatte die Arbeit von Dr. Walther Gräbner, der die drei Pfarrämter Osterwick, Lichnau und Reetz, d.h. die acht Dörfer der „Koschneiderei“ in Westpreußen verkartete. Unter dem Titel „Genealogie und Politik/ Gedanken und Anregungen“ stellte er 1910 Plan und Ziele seiner Arbeit vor, deren Ergebnisse leider nie veröffentlicht worden und deren Karteien als verschollen gelten müssen. [71] „An der Grenze zwischen deutschen und nichtdeutschen Elementen gelegen war die Gegend von alters her Durchzugsland. ... Die Quellen genealogischer Natur, in erster Linie also Kirchenbücher und Standesamtslisten, wurden auf drei verschiedenen Zählkarten verzettelt. ... Die Karten sind in zwei verschiedenen Farben (rot und grün) für die beiden Geschlechter (Männer und Weiber) gedruckt. Die Zettel, die nach Familiennamen geordnet werden, werden nach den einzelnen Ehen und den aus ihnen entsprossenen Kindern zusammengelegt. ... Der dritte Teil gehört der eigentlichen genealogischen Untersuchung. Im ersten Abschnitt behandelt er die genealogischen Voraussetzungen für die biologischen Erscheinungen der Koschneider, der zweite ist der soziologischen Seite gewidmet, der Entstehung und der Art der drei verschiedenen Stände. ... Dem ganzen ist ein Atlas beigegeben, der im ersten Band die Stammtafeln und Ahnentafeln der Koschneider enthält, im zweiten photographische Aufnahmen - nach Familien geordnet - und Messungen bringen. Der vierte Teil, der den Schlußband bildet, wird versuchen, die Generationengeschichte seit etwa 1700 zu geben. Sieben auf einander folgende Menschenalter werden vorgeführt und beschrieben werden. Es wird jedesmal gezeigt werden, was an Hand des Stammtafel - und Ahnentafelatlas keine Schwierigkeiten macht, wie die gerade lebende und wirkende Generation von der vorhergehenden abhängig ist, wie sie auf die folgenden wirkt. Die Veränderungen, denen die Gesamtheit durch Versippung und Einwanderung unterworfen ist, werden genealogisch erkannt werden.“ - Etwa zur selben Zeit hatte Dr. Konrad Brandner (1881-1939) mit seiner Stammtafelarbeit in der Steiermark begonnen, die in der Arbeit an einer „steirischen Volksgenealogie“ mündeten. „Eine Genealogie jedoch, die das gesamte Volk einer Gemeinde oder eines Landstriches oder eines ganzen Landes umfaßt, gibt es bisher nicht. ... Die Genealogie zeigt ... den Familien, daß sie auf demselben Boden arbeiten, dieselbe Scholle bebauen, auf der schon vor 400 Jahren ihre direkten Vorfahren ihren Schweiß vergossen und ihr Brot erarbeitet haben. Dieses Bewußtsein erhöht zweifellos die Liebe zur Heimat und knüpft Fäden zwischen Vergangenheit und Gegenwart.“ [72]

Einen kräftigen Schub erhielt die „Bauernfamilienforschung“ dadurch, daß der bayerische christlich-konservative Agrarpolitiker Freiherr Karl von Freyberg (1866-1940) [73] durch seine persönlichen Erlebnisse als Landwirt, als Abgeordneter und als Minister und auf Grund zahlreicher wissenschaftlicher Studien zu der Überzeugung gelangt war, daß eine längere Geschlechterfolge auf dem gleichen Hof positiv zu bewerten sei. „So sind auch die technischen Fortschritte an einen weitsichtigeren Standpunkt als den des vorübergehenden Besitzers gebunden und werden mit Lust und Liebe nur da vorgenommen werden, wo der derzeitige Besitzer mit längerer Geschlechterfolge im Familienbesitz rechnen kann.“ 1927 verlieh der Bayerische Landwirtschaftsrat erstmals Urkunden an alteingesessene Bauernfamilien über ihren Altbesitz. Bei ununterbrochener Vererbung (gleichgültig ob auf den Sohn oder auf die Tochter, d.h. also ohne Berücksichtigung der Vererbung des Namens) eines Hofes über mindestens 200 Jahre wurde ein Ehrenblatt verliehen. Ab 1929 trug der Bayerische Christliche Bauernverein bei einem Nachweis des Familienbesitzes von mindestens fünf Generationen den Hof in ein „Ehrenbuch des bayerischen Bauernstandes“ ein. Ende 1928 [74] erschien in der Tiroler Bauernzeitung ein Aufsatz von Dr. Hans Hochenegg, der beim Bauernbund anregte, die Tiroler Bauern nach bayerischem Vorbild auf ähnliche Art zu ehren. Hochenegg, seit über 50 Jahren Schriftleiter der „Tiroler Heimatblätter“ fand in Dr. Ludwig Neuner vom Verein für Heimatschutz einen zielstrebigen Befürworter der Erbhofidee. Der Verein für Heimatschutz, die Tiroler Landsmannschaft und der Tiroler Bauernbund betrieben bei der Landesregierung die Ausarbeitung eines Erbhofgesetzes, das dann am 17.3.1931 beschlossen wurde. Nach dem ersten Entwurf des Gesetzes hätte die Erbhofwürde nicht nur im Mannesstamm, sondern auch in weiblicher Linie weitervererbt werden können. Das am 17.3.1931 beschlossene Gesetz verlangte aber die männliche Erbfolge (und erst mit dem Tiroler Landesgesetz vom 26.9.1957 wurde die Besitzerfolge in weiblicher Linie anerkannt; seit dem 26.3.1982 gilt ein ähnliches Erbhofgesetz auch in Südtirol.). 1932 waren in Bayern bereits über 1000 Höfe als Altbesitz erfaßt, in Tirol gab es vor der Einführung des Reichserbhofgesetzes 1938 bereits 462 Erbhöfe. Diese Entwicklungen und Bestrebungen blieben bis 1933 bzw. 1938 nicht auf Bayern und Tirol - an deren Beispiel wir sie abgehandelt haben - beschränkt, sondern erfaßten auch andere Gebiete. Die Antragsteller für einen Erbhof hatten ihre Ahnenreihen aus den Kirchenbüchern lückenlos nachzuweisen, ebenso die Besitzgeschichte mit entsprechenden Auszügen und Urkunden.

Etwa ab 1920 erhielt  die Genealogie im heimatkundlichen Schulunterricht allmählich auch ihren Platz in der gedanklichen Vorbereitung der kommenden „Volksgemeinschaft“. So liest man z.B. in einem kleinen Büchlein [75] unter der Zwischenüberschrift „Die Entfaltung des Gemeinschaftsgedankens durch den Unterricht“: „Zwei, drei Geschlechter stehen dem Dorfkinde von Hause aus schon nahe. Hier knüpfen wir an. ... Die erste Aufgabe wäre somit der Entwurf eines Stammbaumes der dörflichen Gemeinschaft und würde sich so gestalten.: Von einem Kinde läßt man Vater, Mutter, Großvater väterlicher- und mütterlicherseits angeben, dazu alle Onkels und Tanten und deren Kinder  ... . Dann kommen hinzu die ‘Höfe’, auf denen die verschiedenen Glieder dieser einen Familie sitzen oder gesessen haben. ... Dabei werden sich schon Verwandtschaftsbeziehungen zwischen einer ganzen Reihe von Kindern der Klasse ergeben. Das ist’s, was wir wollen. ... Zuletzt sieht das Kind ein: ... Alle gehören zusammen, sind eine Familie. ... Wenn irgendeiner seiner Vorfahren ... aus der Fremde gekommen und ortsansässig geworden ist, übergeht man dessen weiterzurückführenden Stammbaum mit Stillschweigen.“ Zu nennen wäre an dieser Stelle auch der Arzt und Dichter Ludwig Finckh (1876-1964) in Gaienhofen in Württemberg, Mitglied der Leipziger Zentralstelle [76] , aber zugleich auch des „Deutschen Roland“, der in in dieser Richtung mit vielen kleinen Artikeln [77] und Büchlein [78] wirkte, zusammen mit einer wachsenden Zahl von Heimatschützern [79] mit ihren zeitlosen guten Absichten.

Dennoch gab es auch auf dem Lande politische Strömungen mit antisemitischer Grundhaltung. So verlangten die Statuten des „Mitteldeutschen Bauernvereins“ bereits seit 1890 von ihren Mitgliedern die deutsche Abstammung und die Zugehörigkeit zu einer christlichen Konfession. [80]

 


[45] Chefarzt Prof. Dr. L. R. Grote (Dresden): Die Beziehungen der Familienforschung zur Rassenlehre. Mitteilungen der Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte 36. Heft (1928) 24-38 (= Zwischen Naturwissenschaft und Geschichte. Vorträge der Abteilung XIIIb der 89. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Düsseldorf 1926, hrsg. von Fetscher, R., Grote, L. R. und J. Hohlfeld).

[46] Conze, Werner: Rasse. In: Brunner, Otto, Conze, Werner und Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Suttgart: Klett-Cotta 1984, Bd. 5, S. 135-178.

[47] Dawson, William Harbutt: South Africa: People, Places and Problems. London: Longmans, Green and Co. 1925, S. 65.

[48] Breymann, Hans: Nachklänge zum Gießener Kurs. Mitteilungen der Zentralstelle für deutsche Personen und Familiengeschichte 5 (1909) 91-97.

[49] Liebmann, Heinrich: Die Mendelschen Gesetze und ihre Fortbildung. Mitteilungen der Zentralstelle für deutsche Personen und Familiengeschichte 7 (1910) 26-37.

[50] Stern, Curt: Wilhelm Weinberg. Zur hundertjährigen Wiederkehr seines Geburtsjahres. Zeitschrift für menschliche Vererbungs- und Konstitutionslehre 36 (1962) 374-382.

[51] Weber, Matthias M.: Ernst Rüdin: eine kritische Biographie. Berlin: Springer 1993.

[52] Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, DZfG, alte Zentralstelle, Mappe 74.

[53] Hohlfeld, Johannes: Einleitung. Im: Ahnentafeln berühmter Deutscher. Neue Folge. Band 2. Leipzig: Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte 1933-35, S. VII-XV (= Stamm- und Ahnentafelwerk der Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte 10), hier S. XIII.

[54] Breymann, Hans: Über die Notwendigkeit des Zusammengehens von Genealogen und Medizinern in der Familienforschung. Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 9 (1912) 18-29.

[55] Dazu äußert sich z.B.: Mosse, Georg L.: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Königstein: Taunus 1978, auf. S. 104: „Fritz Lenz ... war der Ansicht, daß fanatischer Antisemitismus und Rassenhygiene sich nicht vertrügen. Es besteht daher kein Anlaß zu behaupten, die deutsche und englische Lehre von ‘Rassenbiologie’ und ‘Hygiene’ sei der unmittelbare Vorläufer der Nazi-Politik gegen die Juden.“

[56] Der Vorstand. Die Schriftleitung: An unsere Leser! Familiengeschichtliche Blätter 12 (August/September 1914). - „Schon sind zwei ihrer wissenschaftlichen Beamten und eine überaus große Zahl der freiwilligen Mitarbeiter aus dem Kreise der Mitglieder der Zentralstelle und der Abonnenten ... zu den Waffen geeilt.“ -Wieviele Besucher eines Deutschen Genealogentages sind heute in dem Lebensalter, wo man in die Verlegenheit kommen könnte, in so einem Falle zu den Waffen eilen zu müssen?

[57] von Hoffmann, G.: Rassenhygiene und Familienforschung. Leitsätze der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene über die Geburtenfrage. Familiengeschichtliche Blätter 12 (1914) 325-328.

[58] Broberg, Gunnar and Nils Roll-Hansen (eds.): Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland. East Lansing: Michigan State University Press 1996.

[59] Vgl. auch: Adams, Mark B. (ed.): The Wellborn Science. Eugenics in Germany, France, Brazil, and Russia. New York: Oxford University Press 1990.

[60] So z.B.: Kautsky, Karl: Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft. Stuttgart: J. H. W. Dietz Nachfolger 1910, S. 258.

[61] Das Handbuch hatte sich aus der ebenfalls von der Zentralstelle veranlaßten „Familiengeschichtlichen Quellenkunde“ im Jahre 1908 entwickelt.

[62]   Seine Anregungen auf S. 371-388 des Handbuchs zu „Genealogie und Sozialwissenschaft“ wurden erst umgesetzt in: Weiss, Volkmar: Bevölkerung und soziale Mobilität: Sachsen 1550-1880. Berlin: Akademie-Verlag 1993. - Siehe auch: Weiss, Volkmar: Familiengeschichtliche Massenquellen der Mobilitäts- und Sozialstrukturforschung. Historical Social Research 21 (1996) 151-166

[63] Riehl, W. H.: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Erster Band. Land und Leute. Stuttgart: J. S. Cotta’scher Verlag 1854, S. 18.

[64] Das Land 2 (1893/94) 201-202.

[65] von Glümer: Das Land 3 (1894/95) 28.

[66] Danger, L. (Neuhof bei Reinfeld in Holstein): Alter bäuerlicher Erbbesitz. Das Land 8 (1899) 468-469.

[67] Sohnrey, Heinrich: Wegweise für Ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege. Berlin: Deutscher Dorfschriftenverlag 1900.

[68] Asmus, Ferdinand; diese Chronik ist offenbar nie gedruckt worden und muß als verschollen gelten.

[69] Die Geschichte der deutschen Ortsfamilienbücher: Fünf Jahrhunderte Entwicklung vom Familienregister über das Ortssippenbuch bis hin zum Heimatbuch. In: Weiss, Volkmar und Katja Münchow: Ortsfamilienbücher mit Standort Leipzig. Neustadt/Aisch: Degener 1998 (= Genealogische Informationen 33), S. 11-73.

[70] Máka, A. B.: Matrika obce Struzince (okres Lomnice, hejtmansví Semily, kraj Jicin) od nejstarsich dob az do konce století devatenáctého, sestavená dle rodin v porádku abedecním a v postupu casovém. Struzinec: Mákova lípy 1901, S. 16f.

[71] Gräbner, Walther: Genealogie und Politik: Gedanken und Anregungen. Danzig: Neuer Danziger Verlag 1910, hier zitiert S. 112ff. - Die Koschneiderei ist nach dem 1. Weltkrieg an Polen abgetreten worden, so daß diese Forschungen vermutlich nie abgeschlossen worden sind. Immerhin waren Plan und Ziel der Arbeit ihrer Zeit so weit voraus, daß noch rund 30 Jahre später der Leiter des Reichssippenamtes Mayer über Gräbner, der in Danzig lebte, spezielle Erkundigungen einziehen ließ.

[72] Siehe dazu: Brandner, Konrad: Über Volksgenealogie. Familiengeschichtliche Blätter 24 (1926) 225-228 und 293-296.

[73] von Frauendorfer, Sigmund: Ideengeschichte der Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im deutschen Sprachraum. Bd. 2: Heinz Haushofer: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. München: Bayerischer Landwirtschaftsverlag 1958, S. 114ff.

[74] Hölzl, Sebastian und Hand Schermer: Tiroler Erbhofbuch. Erster Band: Nord- und Osttirol. Innsbruck: Haymon 1986.

[75]   Hauptmann, E.: Heimatkunde. Leipzig: T. Weicher 1920.

[76] Wecken schlägt am 27.3.1926 auf der Hauptausschußsitzung der Leipziger Zentralstelle vor, Finckh zu Ehrenmitglied zu ernennen. Nach Diskussion wird empfohlen „den Herrn lieber in den den Hauptausschuss zu wählen.“ DZfG, alte Zentralstelle, Mappe 22.

[77] z.B.: Finckh, Ludwig: Das Sippenbuch. Blätter für Württembergische Familienkunde 2. Heft (1922) 1-2.

[78] z.B.: Finckh, Ludwig: Das Ahnenbüchlein. Stuttgart: Strecker und Schöder 1921. Das Buch erscheint bis 1943 in 31 000 Exemplaren..

[79] Klocke, Friedrich von. Familienkunde, Gesellschaftskunde, Heimatkunde. Flugschriften der Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte 1 (1920). - Erweiterter Fassung der ursprünglich in den „Heimatblättern der Roten Erde“ 1 (1919) 279-289 veröffentlichten Arbeit.

[80] Pötzsch, Hansjörg: Antisemitismus in der Region. Antisemitische Erscheinungsformen in Sachsen, Hessen, Hessen-Nassau und Braunschweig 1870-1914. Wiesbaden: Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 2000 (= Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 17), S. 206.


Anfang von Teil I: Das sogenannte Blutbekenntnis

 Teil II: Historische oder völkische Genealogie?
Teil III: Die Machtergreifung der Viehzüchter

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