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Der folgende Text aus: Weiss, Volkmar: Die IQ-Falle: Intelligenz, Sozialstruktur und Politik. Graz: Leopold Stocker 2000, S. 91f.


Bei der Entwicklung der Nachrichtentechnik stellte sich heraus, daß eine Größe, die Kanalkapazität, von entscheidender Bedeutung ist. Bei der Nachrichtentechnik, aber auch vom Computer, ist uns das Bit als das Maß für den Informationsgehalt bekannt. Eine einfache Alternative zwischen zwei Möglichkeiten, a oder b, hat nach der Definition den Informationsgehalt von 1 Bit. In den Fünfziger Jahren machte man dann von der gedanklichen Möglichkeit Gebrauch, von einer Analogie zwischen menschlicher und technischer Nachrichtenverarbeitung auszugehen. Der Physiker Helmar Frank (der dazu 1962 seine erstes Buch vorlegte) hatte in den Fünfziger Jahren die Aufgabe, über das Problem nachzudenken, wieviel Information ein Mensch bei einer komplexen Kunstdarbietung, etwa bei einem Bühnenbild, überhaupt aufnehmen und gedanklich verarbeiten kann und wieviel einfach vorbeirauscht. Frank kam dabei auf die Idee, die Durchlaßfähigkeit unseres Verstandes, aber auch seine Lernfähigkeit, als eine Art Kanalkapazität zu begreifen, und er definierte die Speicherkapazität C des Kurzzeitgedächtnisses (gemessen in Bit) als das Produkt aus der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit S (in Bit pro Sekunde) und der Gedächtnisspanne D (in Sekunden), also

 

      C (Bit) = S (Bit/sec) x D (sec).

 

Zur Veranschaulichung der Informationsgeschwindigkeit genügt ein einfacher Selbstversuch:

„Wie setzt man die Reihenfolge fort?“

3   4   6   9   13    18    24   ....

Was geht in einem vor? Erst muß man die Zahlen identifizieren. Wegen der begrenzten Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit nimmt dieser Vorgang Zeit in der Größenordnung von Zehntelsekunden in Abspruch. Dann sind zwei benachbarte Zahlen im Kopf zu behalten, und es ist die Differenz zwischen ihnen festzustellen. Anschließend muß man die nächste Zahl wahrnehmen, die Differenz zur vorigen bilden und mit der vorher ermittelten Differenz vergleichen. Alle diese Vorgänge kosten Zeit. Der Zeitverbrauch summiert sich rasch zu Sekunden. Falls diese Vorgänge schließlich die zeitliche Grenze der Gedächtnisspanne, die allgemein bei etwa 5 Sekunden liegt, überschreiten, verfügt man nicht mehr bewußt über alle Zahlen. Ein Teil ist entfallen. Man muß von vorn anfangen. Wird die Kapazität des Kurzspeichers überschritten, können die einzelnen Elemente nicht richtig aufgenommen bzw. festgehalten werden.

In der Formel der Kurzspeicherkapazität C finden wir deshalb die Gedächtnisspanne D wieder, deren grundlegende Bedeutung uns wohlbekannt ist und für deren Testen es verschiedene Varianten gibt (Wiedergabe der Zahlenfolgen vorwärts oder rückwärts oder aus einer fortlaufenden Zahlreihe heraus), und die Informations-verarbeitungsgeschwindigkeit S des Gehirns. Während der IQ eine Größe ist, die auf den Mittelwert einer bestimmten Bevölkerung bezogen is, ist C eine absolute physikalische Größe und damit dem IQ als Maß eigentlich weit überlegen. Die IQ-Definition ist aber rund ein halbes Jahrhundert älter und bei Vergleichen innerhalb von Bevölkerungen anschaulich und bewährt; C hingegen ermöglicht Berechnungen des Energieverbrauchs beim Denken und auch die Vorhersage (Weiss 1982b in Weiss, Lehrl und Frank 1986), daß auf der absoluten Skala der Kanalkapazität des Kurzzeitgedächtnisses ganzzahlige Relationen zwischen den Genotypen bestehen sollten. Die Druckerschwärze für die Prognose war noch nicht richtig trocken, so konnte sie von Frank und Lehrl 1982 auch schon bestätigt werden. Nach Frank und Lehrl beträgt der Mittelwert für M1M1 140 Bit, für M2M2 70 Bit, d.h. der Beitrag eines einzelnen Allels M1 ist 70 Bit, eines M2 35 Bit. (Die Heterozygoten M1M2 haben folglich einen Kurzzeitspeicher von 70 Bit + 35 Bit = 105 Bit.) 

Dabei läßt sich die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit S z.B. als Lesegeschwindigkeit (Lehrl et al. 1991) oder als Wahlreaktionszeit einfacher Handlungsalternativen meßbar machen. Lehrl und Mitarbeiter gaben einen Kurztest der Allgemeinen Intelligenz (KAI) heraus, bei dem die Lesegeschwindigkeit auf einfache Weise gemessen wird, indem die Testpersonen aufgefordert werden, einfache Zufallsfolgen von Buchstaben, z.B. u n r z t r f e ... ,  mit größtmöglicher Geschwindigkeit zu lesen. Siehe: The Basic Period of Individual Mental Speed (BIP)

Die Lesegeschwindigkeit, also das was bereits Peters (1915) mit allgemeiner Auffassungsgeschwindigkeit erfaßt hat, ist in unseren Kulturen von einer so grundlegenden Bedeutung, daß die Zusammenhänge mit praktischen Anforderungen in Schule und Arbeitswelt für jedermann offenkundig sind. Es ist eines der bemerkenswerten Ergebnisse der Informationspsychologie, wie sich diese von Frank (1962, 1992) inspirierte Denkschule nennt, daß festgestellt werden konnte (Lehrl und Fischer 1988, 1990), daß die Beziehung zur Kurzspeicherkapazität und zum IQ unabhängig von der Art der Sinnesorgane besteht, d.h. unabhängig davon, ob die Information mit Augen oder Ohren aufgenommen wird. Auch bei Blinden, die die Blindenschrift mit ihrem Tastsinn lesen, lassen sich die Zusammenhänge zum IQ auf diese Weise messen und der hochintelligente Blinde liest, d. h. tastest und verarbeitet die Information doppelt oder dreimal so schnell wie ein wenig intelligenter Blinder. Der Test für die andere Basisgröße, die Gedächtnispanne, ist im Kurztest für Allgemeine Intelligenz (KAI) das Verfahren, was uns seit fast 100 Jahren als Teiltest aus vielen IQ-Tests bekannt ist.

Auf diese theoretische und empirisch sehr gut fundierte Ausweitung folgten dann eine ganze Serie von Arbeiten (z.B. Weiss 1992b, 1995a; Lehrl und Fischer 1990), in denen Beziehungen der Kurzspeicherkapazität vor allem zur Energie-Spektraldichte des EEG bei evozierten Potentialen (Deary 1988, Andrés Puyo 1993, Brebner und Stough 1995) und zum Energiestoffwechsel des Gehirns gezeigt werden konnten, die den Gesetzen der Statistischen Mechanik folgen und deshalb unter den Fachleuten, welche die für das Verständnis notwendige fachübergreifende Bildung haben, als „Quantenmechanik der Intelligenz“ bekannt sind. Diese Arbeiten dürften einmal für die Konstruktion einer neuen Computergeneration Bedeutung erlangen.

Bereits die Monographie "Psychogenetik" (Weiss 1982b, S. 158; Nachdruck in Weiss, Lehrl und Frank 1986) schloß mit dem Hinweis, daß die bekannte Korrelation zwischen der Aktivität des Enzyms Glutathionperoxidase und dem IQ der Schlüssel sein könnte, den biochemischen und molekulargenetischen Hintergrund des M1/M2-Polymorphismus zu entdecken. So war die Forschung 15 Jahre lang darauf gerichtet, den Zusammenhang IQ und Glutathionperoxidase aufzudecken. Nach dem Erscheinen eines programmatischen Artikels, einem Editorial in der führenden Fachzeitschrift „Intelligence“ (Weiss 1995b), waren weltweit Forschungen in Gang gekommen, die molekulargenetischen Grundlagen der IQ-Unterschiede aufzudecken, ohne aber bei Glutathionperoxidase- und Glutathiontransferase-Polymorphismen fündig zu werden. Inzwischen ist entdeckt worden, daß S-Nitrosoglutathion (GSNO) die Aktivität des Neurotransmitters Nitritoxid (NO) dadurch aufrechterhält, daß das Enzym Methioninadenosyltransferase deaktiviert wird. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, daß einer der zahlreichen schon bekannten und verbreiteten Polymorphismen des Monokarbonstoffwechsels die gesuchte Eigenschaft haben könnte, den Glutathionstatus und die Effektivität des Hirnenergiestoffwechsels (d.h. den Glukosestoffwechsel) zu regulieren (Smythies 1999, Weiss 1999). D.h., man muß sich die verschiedenen genetischen Enzymvarianten (Polymorphismen) als Treibstoffe mit sehr unterschiedlicher Oktanzahl vorstellen. Die Unterschiede zwischen IQ 90 und IQ 130 beruhen nicht auf anatomischen Unterschieden der Menschen, sondern auf Unterschieden des Brennwerts der körpereigenen Treibstoffe.  Es gibt einige Forscher, die die Prognose wagen, daß wir in den nächsten Jahren vor einer Entdeckung stehen, die unser Leben tiefgreifend und gründlich beeinflussen und verändern wird. Wenn der M1/M2-Hauptgenlocus der Intelligenz entdeckt worden ist, wird es dann nur wenige Jahre dauern, bis auch andere kühne Träume und Vorstellungen möglich werden. An dem sozialen Gefüge dieser Welt wird sich aber dadurch erst einmal nichts ändern, man wird es nur besser begreifen. Es gibt starke politische Interessen, die dieses Begreifen verhindern oder wenigstens verzögern wollen.


  • Weiss, Volkmar: The advent of a molecular genetics of general intelligence. Intelligence 20 (1995) 115-124 (Editorial)
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